Porträt der Woche

Die Pfanzenflüsterin

Spricht gern mit ihren Pflanzen und freut sich über die Kinderbücher, die sie geschrieben hat: Eva Khaikina (80) aus Essen Foto: Gustav Glas

Das Gemüse auf meinem Balkon gedeiht so gut, dass ich schon einige Tomaten und Gurken ernten und essen konnte. Ich mag Pflanzen – mein Balkon und meine Wohnung sehen an einigen Plätzen aus wie ein Botanischer Garten. Ich finde es wichtig, mit ihnen zu kommunizieren. Allerdings kann ich sie nicht sehen, denn ich bin als junge Frau erblindet.
Mein Kühlschrank ist gut gefüllt, da ich gern koche und esse. Am liebsten Kartoffeln mit Hering. Alles liegt auf seinem genauen Platz, und nichts darf umgestellt werden, damit ich alles wiederfinde.

Darauf ist mein Gedächtnis gut trainiert. Ich muss mir merken, wohin ich die Sachen lege. Nach einem starken Tee am Morgen gehe ich gern spazieren. Wenn der Spaziergang ausfällt, dann sage ich meinem Handy, dass es mir Sachen zu bestimmten Themen heraussuchen soll. Musik von Edvard Grieg oder Modest Mussorgsky. Oder Texte von Anton Tschechow. Auch andere russische Klassiker mag ich.

Sessel Ich möchte immer Neues lernen. Audio-Dateien zu verschiedenen Themen, am besten wissenschaftliche, literarische, musikalische und nachrichtenbezogene Inhalte. Telefonate nehmen bei mir viel Zeit in Anspruch, denn ich habe viele Freunde und Bekannte. Außerdem wenden sich Menschen mit der Bitte an mich, ihnen bei Problemen zu helfen. Ich versuche dann immer, denjenigen zu beruhigen und ihm einen Weg aufzuzeigen. Aber ich sitze auch gern in meinem Sessel und denke nach. Meistens bin ich zufrieden oder sogar glücklich.

Der Tag geht schnell vorbei, und abends bedauere ich, wie rasch er vergangen ist. In diesen Tagen freue ich mich beispielsweise darauf, in dem Day Camp der jüdischen Gemeinden einen Inklusionstag mit den Kindern gestalten zu können. Ich möchte ihnen zeigen, wie ich als blinde Frau zurechtkomme, und ihnen verdeutlichen, wie wichtig es ist, freundlich, hilfsbereit und warmherzig zu sein.

Die schwerste Zeit in meinem Leben war, als mein Mann starb. Wir verbrachten 43 glückliche Jahre zusammen. Als er nicht mehr da war, fiel ich in eine schwere Depression. Mit der Zeit kamen mir glücklicherweise meine inneren Kräfte zu Hilfe. Ich begann, Gedichte zu schreiben, zum ersten Mal in meinem Leben.

Wohltätigkeit wurde zu meinem Hauptanliegen, denn ich wollte den Kindern etwas geben.

Das war vor 17 Jahren, als ich 63 Jahre alt war. So entstand eine große Buchreihe über das Kätzchen Grisha – die liebenswerteste Katze der Welt! In meiner Wohnung hängt sie als kleine Figur in einem bunten Heißluftballon. Ich schrieb auch andere Bücher für Kinder, darunter Zungenbrecher und Rätsel, die Logopäden später in ihrer Arbeit verwendeten. In Moskau, wo ich bis vor dreieinhalb Jahren lebte, trat ich häufig vor Kindern auf, die gesundheitlich eingeschränkt waren und in einem Internat lebten. Gemeinsam erarbeiteten wir uns Zungenbrecher.

geschenke Ich brachte ihnen viele Bücher als Geschenke mit. Wohltätigkeit wurde zu meinem Hauptanliegen. Ich wollte diesen Kindern gern etwas geben.

Zusammen mit den Mitarbeitern des Internats veröffentlichten wir schließlich ein Buch mit dem Titel Unsere Fantasie, in dem Kinder mit geistiger Behinderung Zeichnungen zu meinen Gedichten anfertigten. Das Ziel dieser Publikation war, zu zeigen, dass auch sie viel erreichen können. Vor allem wollte ich ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst auszudrücken. Mir gefällt es sehr, Bücher zu schreiben, sie zu
veröffentlichen, darüber zu erzählen und sie zu verschenken.

Ich wurde 1943 in Kasachstan geboren. Meine Familie zog dorthin, als der Zweite Weltkrieg begann und die Bewohner Moskaus in sicherere Gebiete evakuiert wurden. Als ich acht Monate alt war, kehrten wir nach Moskau
zurück. In der Schule war ich eine gute Schülerin. Mir gefielen die exakten Wissenschaften wie Mathematik und Physik.

Nach Abschluss der unvollständigen Mittelschule trat ich in ein Technikum ein und erlangte den Abschluss als Technikerin für die Reparatur städtischer Verkehrsmittel. In dieser Zeit lernte ich meinen zukünftigen Ehemann kennen – während meines Praktikums, als wir als Technikumsstudenten in einer Fabrik arbeiteten. Schon ein Jahr nach unserem Kennenlernen haben wir geheiratet. Zu diesem Zeitpunkt waren wir beide 20 Jahre alt. Zwölf Monate später wurde unsere erste Tochter geboren. Alles lief gut, bis ich während meines Studiums bemerkte, dass meine Sehkraft schwächer wurde.

Prognose Die medizinische Untersuchung ergab eine entmutigende Prognose. Meine Krankheit war unheilbar. Meine Sehkraft verließ mich fortschreitend, weshalb das Leben in meiner gewohnten Umgebung immer schwieriger für mich wurde. Als unsere erste Tochter sechs Jahre alt wurde, kam unsere zweite auf die Welt. Nach ihrer Geburt konnte ich nicht mehr arbeiten gehen, aufgrund persönlicher Umstände. Ab diesem Zeitpunkt blieb ich zu Hause und kümmerte mich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder. Geld war knapp, also nahm ich Heimarbeit an, um etwas finanzielle Unterstützung zu haben.

Und trotz des Sehverlusts strebte und strebe ich immer nach neuen interessanten Erfahrungen. Das Sehvermögen zu verlieren und mit 26 Jahren an die Wohnung gefesselt zu sein, war keineswegs einfach. Es brauchte Zeit, um sich mit dieser Situation abzufinden. Aber zum Glück ist mir das gelungen.

Heute arbeite ich daran, die elektronischen Geräte zu beherrschen, den Computer zu bedienen. Vor 20 Jahren habe ich angefangen, am Computer zu arbeiten. Da gab es bereits eine Software, die Blinden hilft. Ein Sprachassistent liest alles vor. Seit einigen Jahren nutze ich auch ein Smartphone. Es gibt weitere neue Programme, die mir sprachlich den Gesichtsausdruck erklären, den eine Person auf dem Foto hat, deren Haarfarbe verraten und das Alter schätzen, Formen und Farben beschreiben.

Die Möglichkeiten für Blinde werden jeden Tag mehr.

Die Möglichkeiten für Blinde werden jeden Tag mehr. Ferner lerne ich Deutsch, beschäftige mich mit der Psychologie und denke über das Zubereiten köstlicher Gerichte nach.

corona Seit dreieinhalb Jahren lebe ich nun in Deutschland. Einige Jahre hatte ich sowohl in Moskau als auch in Essen eine kleine Wohnung. Meine ältere Tochter lebt mit ihrer Familie in Russland, meine jüngere in Deutschland – und ich flog zwischen den Städten hin und her. Im Februar 2020 hatte ich mich gesundheitlich nicht gut gefühlt und wollte mich in Deutschland behandeln lassen – und dann kam Corona.

Seitdem bin ich hier, in meinem deutschen Zuhause. In meiner Wohnung, die im Grünen liegt. In Moskau lebt meine Tochter, viele meiner Enkelkinder und Urenkel. Ich weiß, dass sie immer an mich denken, und wir sprechen oft miteinander.

Die Einwanderung hatte keinen negativen Einfluss auf mich. Ich fühle mich hier wohl. Und natürlich ist es für mich elementar wichtig, dass ich mich hier nicht einsam fühle, sondern mich in guter Gemeinschaft befinde, umgeben von Menschen, die mir nahe sind. Ich lebe unabhängig und kann mich weitgehend selbst versorgen. Natürlich brauche ich manchmal Hilfe von außen. Von der Jüdischen Gemeinde kommt beispielsweise jemand, um für mich einzukaufen.

Kamele Ich habe eine Leidenschaft: Ich sammle Kamele in allen Größen. Ich bewundere diese Tiere! Sie schleppen die Last durch die Wüste und geben nie auf, obwohl es schwer ist. Das imponiert mir. Und ich würde sagen, dass ich ziemlich viele besitze.

Ich möchte, dass es um uns herum viel ruhiger wird, als es jetzt ist, der Krieg ein Ende findet. Hoffentlich habe ich noch Zeit, neue Werke zu schaffen. Und hoffentlich ermöglicht mir meine Gesundheit noch eine lange Zeit, in der ich mein Leben genießen kann. Einen Traum habe ich: dass meine Bücher auch hier publiziert werden und ihre Leser finden. Und so, wie die Kamele nie aufgeben, werde ich es auch nicht tun.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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