Porträt der Woche

»Die Kratzer sind gewollt«

Avner Sher ist Architekt und will als Künstler Verletzungen offenlegen

von Alice Lanzke  17.11.2019 18:02 Uhr

»Meine Eltern redeten nie über die Schoa – ich fühlte mich wie ein Blatt ohne Ast, ohne Stamm, ohne Wurzeln«: Avner Sher (68) Foto: Stephan Pramme

Avner Sher ist Architekt und will als Künstler Verletzungen offenlegen

von Alice Lanzke  17.11.2019 18:02 Uhr

In meiner Kunst kreiere ich Chaos: Schaut man sich meine Kork-Obelisken an, dann sieht man, wie ich sie zerkratzt und mit Rotwein und Jod begossen habe. Es ist ein sehr aggressiver, ja brutaler Prozess, der instinktiv einsetzt. Wenn ich anfange zu denken, dann muss ich mein Atelier sofort verlassen. Drorit Gur Arie, die Kuratorin meiner derzeitigen Ausstellung im Circle1 in Berlin, spricht gerne über die Verbindung von Politik und Poetik. Für mich geht es weniger um Konzepte als um Instinkt. Aber die Zusammenarbeit mit Drorit war großartig: Sie macht aus 99 Prozent Qualität 100 Prozent.

Chaos Ich baue neue Welten aus dem Chaos – was könnte da passender sein, als in Berlin auszustellen? Als ich Anfang der 90er- Jahre das erste Mal in die Stadt kam, war alles voller Kräne. Es sah aus, als ob eine komplett neue Stadt gebaut würde. Das war auch eine der Inspirationen für meine Stadtpläne aus Kork.

Korkbäume sind faszinierend: Waldbrände können ihnen nichts anhaben, alle neun Jahre kann ihre Borke geerntet werden. Der Baum bleibt nackt zurück und entwickelt eine neue Rinde. Das erinnert mich an die menschliche Natur, an unsere Hoffnungen und unseren Glauben an die eigene Fähigkeit, wieder aufzustehen und unser Leben neu aufzubauen. So beschreibe ich auch das Prinzip meiner Kunst: neues Leben aus Chaos entstehen lassen.

Vor drei Jahren begann ich, an den Obelisken zu arbeiten. Obelisken sind ägyptische Monumente mit vielen kleinen Inschriften, mit denen auch dem Sonnengott Ra gehuldigt wurde. Interessanterweise fanden Archäologen keine Obelisken aus der Zeit nach dem Auszug des jüdischen Volks aus Ägypten. Das heißt, dass diese von jüdischen Sklaven gebaut worden sein mussten. Jeder meiner Obelisken stellt eine der zehn Plagen dar, was ich gar nicht bewusst geplant hatte. Aber so ist meine Kunst auch ein Akt des Trotzes.

Ich bin das einzige Kind zweier Holocaust-Überlebender.

In der Ausstellung sieht man zudem die Landkarten und Stadtpläne, an denen ich seit zwei Jahren arbeite. Sie zeigen Jerusalem und Berlin. Jerusalem ist etwa 5000 Jahre alt. Keine andere Stadt der Welt vereint so einen Überfluss an politischer und spiritueller Geschichte und Kultur auf so wenigen Quadratmetern. Der Ort ist enorm wichtig für gleich drei monotheistische Weltreligionen – und wird durch eine Mauer in Ost und West geteilt. Berlin hingegen wurde im 13. Jahrhundert gegründet. Doch auch diese Stadt entwickelte sich zu einem wichtigen Zentrum: für Industrie, Wissenschaft, Kultur, Kunst, aber auch Krieg. Und natürlich gab es auch hier eine Mauer.

Stadtpläne In meinen Arbeiten habe ich nun Stadtpläne von Berlin und Jerusalem vermischt, ebenso die Mauern sowie Ost und West. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass ich keine Gebäude in den Kork gekratzt habe, sondern die Schatten von Gebäuden. Schatten sind nicht permanent, sie bewegen sich ständig.

Als ich an den Karten arbeitete und einen Schritt zurücktrat, bemerkte ich plötzlich merkwürdige Figuren – ein Boot mit Geflüchteten, Spinnen –, die ich unabsichtlich hinzugefügt hatte. Aber das ist meine Arbeitsweise. Insofern sind meine Korkkarten, die auf dem Boden liegen und an den Wänden hängen, keine originalgetreuen Darstellungen der alten und neuen Stadtpläne – aber das sind Landkarten nie. Schon immer wurden sie manipuliert und so gezeichnet, wie es der jeweilige Herrscher befahl.

PENDEL Dazu passt auch der Titel der Ausstellung Open Closed Open, den Drorit von einem der Bücher des israelischen Lyrikers Jehuda Amichai gewählt hat. In den Gedichten schreibt Amichai darüber, die Schichten der Geschichte abzuschälen wie ein Pendel, das sich zwischen den Zeiten, gebrochenen Gefühlen und Erinnerungsfragmenten bewegt, die sich in der alltäglichen Realität festsetzen. Drorit und ich haben so in unserem Dialog über die Ausstellung räumliche und politische Fragen erforscht. Die Installationen reflektieren Gedanken über touristisch orientierte Miniaturmodelle historischer Prozesse und Ereignisse.

In meinen Arbeiten habe ich Stadtpläne von Berlin und Jerusalem vermischt.

Und nun zeige ich diese Stadtpläne und die Obelisken hier in Berlin. Ich empfinde die Obelisken als eine Art Echo des Brandenburger Tors, das der preußische König Friedrich Wilhelm II. als Zeichen von Frieden und Einheit bauen ließ. Später wurde es das Tor zwischen dem Osten und dem Westen in der geteilten Stadt. Aber am Ende siegte die Einheit.
Und dass ich hier in Berlin ausstelle, ist für mich ebenso ein Sieg – ein Sieg des jüdischen Volkes. Denn ich bin das einzige Kind zweier Holocaust-Überlebender.

GEHEIMNISSE Geboren wurde ich 1951. Mein Vater stammte aus Vilnius, meine Mutter aus Kaunas. Da sie an Krebs litt und immer wieder im Krankenhaus war, kannte ich sie kaum: Sie starb, als ich 14 Jahre alt war. Deswegen wurde ich von meinem Vater aufgezogen.

Das Zuhause meiner Kindheit bedeutete Einsamkeit. Ich erinnere mich an Pessachfeiern, die nur aus mir und meinem Vater bestanden. Ich weiß nicht, wie meine Eltern die Schoa überlebt haben, darüber wurde nie gesprochen. Stattdessen: Stille, wenig Gespräche, kein Teilen, nur Flüstern, Geheimnisse. Bis zu seinem Tod hat mir mein Vater nichts erzählt. Ich fühlte mich wie ein Blatt ohne Ast, ohne Stamm, ohne Wurzeln. Nun habe ich fünf Kinder und damit neue Zweige in die Welt gesetzt.

Aber mir selbst fehlt das Wissen über meinen Ursprung. Ein Psychologe sagte mir einmal, dass ich deswegen so arbeite, wie ich arbeite: Ich versuche, Dinge an die Oberfläche zu bringen. Ich habe immer das Gefühl, das hinter allem ein Geheimnis steckt, das ich aufdecken will.

Das Zuhause meiner Kindheit bedeutete Einsamkeit. Ich erinnere mich an Pessachfeiern, die nur aus mir und meinem Vater bestanden.

In meinem Elternhaus herrschte viel Druck: Druck zu essen, zu studieren, hart zu arbeiten und Erfolg zu haben. Deswegen habe ich auch Architektur studiert, weil mein Vater wollte, dass ich etwas Praktisches mache. Als Architekt führe ich ein großes Büro. Ich plane umfangreiche und komplexe Projekte, von kommerziellen Anlagen über Büros bis hin zu öffentlichen und privaten Häusern.

Darauf nimmt meine Arbeit als Künstler großen Einfluss: Von ihr habe ich das abstrakte Denken, den Glauben, dass alles versucht werden kann ohne Angst – was schließlich zu kreativen Lösungen führt. Umgekehrt helfen mir meine Erfahrungen als Architekt auch in der Kunst, indem ich mit jeder Idee technisch experimentiere. Meiner Meinung nach ist der größte Unterschied zwischen den beiden Bereichen, dass es in der Architektur vom ersten Moment an einen Kunden gibt, der ein Programm, ein Ziel und ein Budget hat.

CHAOS Ich habe schon in verschiedenen Ländern ausgestellt, darunter in den USA, Italien und Israel. Angst habe ich dabei nie. Vielmehr bin ich jedes Mal gespannt, wie die Zuschauer reagieren, was sie denken. Kritik ist die Meinung von anderen: die Wahrnehmung, die jemand durch seine spezifische Brille hat. Und das respektiere ich.

Allerdings kenne ich Angst im kreativen Prozess. Manchmal erwache ich aus einem Nebel der Zerstörung und versuche, die Bedeutung der Kratzer im Kork zu finden, ihre Geheimnisse aufzudecken – wenn mir das nicht sofort gelingt, mache ich mir Sorgen. Ich kann das Chaos nicht stehen lassen, sondern muss neues Leben kreieren. Aber meistens verfalle ich dann in einen meditativen Zustand. Ich beobachte, ich träume, ich stelle mir vor.

Ich kann das Chaos nicht stehen lassen, sondern muss neues Leben kreieren.

Und plötzlich erscheinen merkwürdige Formen, manche furchteinflößend, andere komisch, kindlich oder primitiv. Und ich jage diesen Gestalten glücklich nach. Ich sehe diese verrückten Figuren, die aus meinem Unterbewusstsein stammen, und bin froh, dass sie aus dem Chaos entstanden sind.

NULL-AMPLITUDE Ich bin in einem religiösen Haushalt aufgewachsen. Bis ich 18 Jahre alt war, trug ich Kippa. Heute bin ich nicht mehr religiös, aber die Erinnerungen begleiten mich. Bibelgeschichten und jüdische Bräuche finden Eingang in meine Arbeit. Wenn ich meine Korkwerke ansehe, entdecke ich Motive aus der Bibel und der jüdischen Tradition.

Aus meiner Kindheit ist mir auch die Stille geblieben: Durch sie habe ich die Fähigkeit, meine Umgebung komplett auszublenden und in einen meditativen Zustand zu gelangen, in dem ich das Gefühl habe, dass alles möglich ist, dass ich alles versuchen sollte.

Diesen Zustand nenne ich die »Null-Amplitude« – im Gegensatz zum Auf und Ab des täglichen Lebens. Aus ihm entsteht meine Kunst: Kratzen ist keine sanfte Prozedur, und wenn man Kork kratzt, dann bekommt man keine glatten Linien wie auf Holz, sondern Kratzer wie auf der Haut. Diese Kratzer sind gewollt: Ich will mit meiner Kunst Verletzungen verursachen.

Aufgezeichnet von Alice Lanzke

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