Bergen-Belsen

»Die ganze Welt war mit Brettern vernagelt«

Albrecht Weinberg hat die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora in Thüringen und Bergen-Belsen überlebt. Foto: picture alliance / dpa

Albrecht Weinberg setzt sich in der ehemaligen jüdischen Schule im ostfriesischen Leer auf einen Stuhl zwischen die hölzernen Schulbänke aus alten Tagen. Für kurze Zeit, nachdem seine Familie 1936 zum Umzug gezwungen worden war, hat er selbst diese Schule besucht, die heute eine Gedenkstätte beherbergt.

»Ich war elf Jahre alt, als ich in meinem Geburtsort Rhauderfehn nicht mehr auf eine deutsche Volksschule gehen durfte – weil ich Jude war«, sagt der 97-Jährige. Er hält kurz inne. Von da an sei er behandelt worden, als hätte er eine Krankheit und könnte die anderen anstecken.

ausgrenzung Albrecht Weinberg hat die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora in Thüringen und Bergen-Belsen bei Celle überlebt. Und er gehört zu denen, die bis heute davon berichten können, wie auch in einem Dorf in Ostfriesland die Ausgrenzung begann, an deren Ende die Ermordung seiner Eltern stand.

»Albi hat man mich als Kind genannt«, erzählt er. »Ihr dürft mit ihm nicht mehr spielen, er ist ein Jude« – so wurde es auf einmal seinen Freunden eingeschärft. Sein Vater, ein Viehhändler, durfte sein Gewerbe nicht mehr ausüben. An den Geschäften hingen Schilder »Juden kein Zutritt«, berichtet Weinberg. »Wir wurden sozusagen in einen Schraubstock gespannt. Jeden Tag eine neue Umdrehung, bis man sich nicht mehr bewegen konnte.«

Als vor 77 Jahren britische Truppen das Lager Bergen-Belsen befreiten, lag Albrecht Weinberg, gerade 20 Jahre alt, inmitten von Leichen. Mit einem Viehwaggon war er Tage zuvor auf einem Räumungstransport vom Lager Mittelbau-Dora über Neuengamme bei Hamburg in das niedersächsische KZ verfrachtet worden. »Da war ich 99 Prozent ein Toter«, sagt er. Als dann Panzer kamen, dachte er: »Jetzt ist es endgültig. Unsere Endlösung. Wir werden jetzt alle erschossen. Aber das waren Engländer, das haben wir ja nicht gewusst.«

heimatlos Bei der Befreiung des Konzentrationslagers am 15. April 1945 fanden die britischen Soldaten Tausende unbestattete Leichen und Zehntausende todkranke Menschen vor. In Bergen-Belsen starben mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene. Diejenigen, die sich ins Leben zurückkämpften, waren heimatlos geworden wie Albrecht Weinberg. Mehr als 40 seiner Angehörigen wurden ermordet. »Wir konnten nirgends hin. Die ganze Welt war mit Brettern vernagelt.«

Vor Schulklassen berichtet Albrecht Weinberg über endlose Zählappelle, den Hunger und die Zwangsarbeit, die er leisten musste.

1947 gelangten Albrecht und seine Schwester Friedel schließlich nach New York. Am Broadway betrieb er einen Fleischerladen. Die Geschwister blieben zusammen und schworen einander: »Jemanden heiraten, das wäre okay.« Aber nach all dem, was sie hinter sich hatten, jüdische Kinder in die Welt zu setzten, »das kam für uns nicht infrage«. Als die Stadt Leer in den 80er-Jahren frühere jüdische Bürger einlud, besuchten die Geschwister ein erstes Mal wieder Ostfriesland. Nachdem Friedel einen Schlaganfall erlitt, kehrten sie 2012 endgültig zurück, in ein Altersheim in Leer, wo die Schwester später starb.

Bis heute engagiert sich Albrecht Weinberg als Zeitzeuge. Vor Schulklassen berichtet er über endlose Zählappelle, den Hunger und die Zwangsarbeit, die er leisten musste. Zeitzeugen wie er seien wertvoll, sagt die Historikerin Diana Gring von der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen halten noch zu vielen Überlebenden Kontakt und wollen unter anderem mit Video-Interviews deren Erinnerungen bewahren. Noch seien es einige Hundert Menschen, weil im Lager viele Kinder inhaftiert waren. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es werden wird, ganz ohne Zeitzeugen«, sagt Gring.

schule Albrecht Weinberg lebt inzwischen in einer Wohngemeinschaft bei Gerda Dänekas, die ihn früher im Heim als Pflegerin betreut hatte. In Rhauderfehn wurde eine Schule nach ihm benannt, in der er auch seinen 97. Geburtstag gefeiert hat – mit Ostfriesen-Kuchen, wie er erzählt.

Manchmal schleichen sich noch englische Worte bei ihm ein: »Die Kinder, die Schüler sind einfach tough«, sagt er: »Ganz wunderbar.« Er hoffe, dass sie sich widersetzen, falls erneut Zeiten kommen, wie er sie erlebt hat. Niemand in der Nachbarschaft habe seiner Familie beigestanden, blickt er zurück.

Menschen hätten hinter den Gardinen gestanden und sich gesagt: »Oh, das sind die Juden, die werden nach Osten geschickt – und das war’s.«

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Israel

Voigt will den Jugendaustausch mit Israel stärken

Es gebe großes Interesse, junge Menschen zusammenzubringen und Freundschaften zu schließen, sagt der thüringische Regierungschef zum Abschluss einer Israel-Reise

von Willi Wild  13.11.2025

Karneval

»Ov krüzz oder quer«

Wie in der NRW-Landesvertretung in Berlin die närrische Jahreszeit eingeleitet wurde

von Sören Kittel  13.11.2025

Jüdische Kulturtage Berlin

Broadway am Prenzlauer Berg

Vom Eröffnungskonzert bis zum Dancefloor werden Besucherrekorde erwartet

von Helmut Kuhn  13.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025