Historie

Die »Eierjuden«

Fünf kleine Kidduschbecher erzählen eine große, bewegende und auch traurige Geschichte. In einer Rundvitrine sind sie im Museum Neukölln sorgfältig aufgereiht und ausgestellt. Für Margarete Brandt waren diese Kidduschbecher rätselhafte Gefäße. »Hier habe ich übrigens noch was«, so kam sie 1988 in das Neuköllner Regionalmuseum hereinspaziert, die nur 4,5 Zentimeter hohen, aus Messing gefertigten Becher in einer Tüte an der Hand. Zu jener Zeit suchten die Museumsmitarbeiter Gegenstände, die Geschichten vom jüdischen Leben in Neukölln erzählen. So wie die Kidduschbecher der weitverzweigten Familie des »Eierjuden« Simon Adler.

Eigentlich wollte die Familie Adler im April 1936 nach Palästina auswandern. Warum er, seine Frau Rachel und sein Sohn Bernhard es nicht bis Palästina schafften, ist bis heute unklar. Sie hatten bereits ihre Wohnung in der Kreuzberger Dieffenbachstraße gekündigt und sich polizeilich ordentlich abgemeldet, sogar die drei Fahrkarten für die Überfahrt waren gekauft. »Als Andenken« gab Simon Adler dem befreundeten Ehepaar Brandt zum Abschied einen Koffer mit Kleidung, eine Japanvase und eben jene fünf Kidduschbecher, die heute in der Ausstellung »99 x Neukölln« zu sehen sind.

Ausreise »Vielleicht war es die Angst, das Vermögen zu verlieren? Vielleicht waren es bürokratische Hürden, die sich da plötzlich auftaten und die Ausreise der Adlers verhinderten? Wir wissen nicht, warum Simon Adler noch in Berlin blieb«, sagt Karolin Steinke. Die Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin des Museums Neukölln hat sich auf die Spur der Kidduschbecher gemacht. Zwei Jahre lang hat sie recherchiert, Akten und Gedenkbücher gewälzt, in Israel wie in Berlin Angehörige und ehemalige Freunde der Familie Adler interviewt. Herausgekommen ist jetzt von ihr ein überaus lesenswertes Buch mit dem Titel Simon Adler, Eierhändler in Berlin.

Es finden sich in diesem kleinen Buch Fotos der Familie Adler aus glücklichen, unbeschwerten Tagen. Simon Adler ging es gut. Er war eine Art Sozialaufsteiger, der es zu etwas gebracht hatte. Am 8. Oktober 1885 in Halicz in der Nähe der galizischen Stadt Lemberg geboren, machte er sich 1905 nach Berlin auf, wo er sich zum Kaufmann im Eierhandel ausbilden ließ. Vier Jahre später gründete er seinen ersten Lebensmittelladen in Rixdorf, dem späteren Neukölln.

Sich als galizischer Jude im Berliner Eierhandel zu versuchen, lag nahe. »Im Jahr 1910 waren 70 Prozent der Händler, die auf dem Berliner Eiermarkt ihre Ware umsetzten, Juden aus Russland und Galizien«, hat Karolin Steinke recherchiert. Der Eiermarkt in der deutschen Hauptstadt galt als einer der wichtigsten und größten in Europa – und war fest im Griff der jüdischen Eierimporteure aus Osteuropa. Das galt schon für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und sollte sich bis zum Jahr 1933 auch nicht ändern.

Eierkonsum Der Hunger der Berliner auf Eier war unersättlich. In der Zeitschrift »Der Internationale Eierhandel« attestierte ein Autor im Jahre 1909 den Berlinern einen nahezu »kolossalen Eierkonsum«. Zusammen genommen verzehrten die Hauptstädter 1907 täglich 1,7 Millionen Eier. »Eierjuden« wurden Importeure und

Händler wie Simon Adler von den Berlinern genannt. Ihr Ruf war ausgezeichnet, lieferten sie doch schmackhafte, frische und zudem preiswerte Eier. Die jüdischen Eierhändler betrieben ihren Handel professionell und waren ihrer Zeit weit voraus. Sie kauften die Ware direkt beim Erzeuger in den Produktionsstätten in Galizien. Dort wurden die Eier zunächst in Speichern zwischengelagert, sortiert und dann in Kisten verpackt und schließlich auf die Schiene gebracht. Die jüdischen Importeure ließen die empfindlichen rohen Eier bei Kälte in den Eisenbahnwaggons beheizen und kühlten sie bei Hitze.

Die Spenderin der Kidduschbecher, Margarete Brandt, war nur eine von vielen zufriedenen Kundinnen, die in Simon Adlers Eiergeschäft einkauften. Simon Adler heiratete Rachel, eine resolute Frau, die wie er aus Galizien stammte. Beide stellten im Gegensatz zu den meisten strenggläubigen Ostjuden die Religionsvorschriften nicht über alles andere. Sie machten sogar am Samstag, dem jüdischen Ruhetag, ihre Geschäfte. Nicht selten zum Ärger der frommen Verwandten.

Der stolze Kaufmann Adler brachte es in den 26 Jahren seines Arbeitslebens zu beträchtlichem Wohlstand. Er kaufte sich ein Mietshaus in Kreuzberg und ein Sommerhaus am Berliner Stadtrand in Ziethen. Rachel gebar drei Kinder. Erich (Uri) emigrierte 1933 nach Palästina. Der zweite Sohn Bernhard rettete sich 1936 über Dänemark nach Schweden, um dann 1949 in den neuen Staat Israel überzusiedeln. Der dritte Sohn Heinrich wurde als Psychiatriepatient 1940 in Brandenburg/Havel in einer »Euthanasie-Aktion« ermordet.

Gesetze Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis 1933 trat das »Gesetz über den Verkehr mit Eiern« in Kraft. Der Eiermarkt wurde staatlich reguliert und der Eierimport zugunsten der inländischen Eierwirtschaft stark eingeschränkt. Neu geschaffene Institutionen kontrollierten die Eierordnungen. An der Spitze besetzt mit Mitgliedern der NSDAP, in Berlin mit Bernard Grzimek, dem späteren obersten Tierschützer der westdeutschen Nation.

Die Propaganda für die deutschen Eier zeigte schnell Erfolge: »Es gibt wieder arische Eier« frohlockte das NS-Hetzblatt Der Angriff im Jahr 1936. Jüdische Händler wurden auf den Märkten an den Rand gedrängt, viele verkauften ihre Geschäfte und flohen. Auch Simon Adler musste sein Geschäft 1935 aufgeben. Nach der gescheiterten Emigration begann für Simon und Rachel Adler eine Odyssee durch Berlin. Sie verloren ihr gesamtes Hab und Gut, versteckten sich mittellos bei Freunden in Berlin, entzogen sich dem Zugriff der Gestapo.

Simon Adler und seine Frau wurden 1944 verraten. Jüdische Spitzel, sogenannte »Greifer«, nahmen Rachel Adler auf offener Straße im Prenzlauer Berg fest, kurz danach ihren Mann. »Sie haben mich gefasst«, raunte Rachel Adler noch einer Passantin und Zeugin der Verhaftung verzweifelt zu. Am 3. Mai 1944 wurden Simon und Rachel Adler mit dem 52. Osttransport von Berlin nach Auschwitz deportiert. Der Zeitpunkt ihrer Ermordung wurde dort nicht erfasst.

Berlin

»Berlin verneigt sich«

Zwei Monate nach ihrem Tod wird die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in Berlin gewürdigt. Der Bundespräsident mahnt vor Politikern und Weggefährten, das Erbe der Jahrhundertfrau weiterzutragen

von Alexander Riedel  09.07.2025 Aktualisiert

Engagement

Verantwortung übernehmen

Erstmals wurde der Fritz-Neuland-Gedächtnispreis verliehen. Die Auszeichnung erhielten der Jurist Andreas Franck und die AG PRIOX der bayerischen Polizei

von Luis Gruhler  09.07.2025

Deutsch-Israelischer Freiwilligendienst

»Wir müssen gewachsene Strukturen erhalten«

ZWST-Projektleiter Erik Erenbourg über ein besonderes Jubiläum, fehlende Freiwillige aus Deutschland und einen neuen Jahrgang

von Christine Schmitt  09.07.2025

Essen

Vier Tage durch die Stadt

Der Verein Kibbuz Zentrum für Kunst, Kultur und Bildung führte 20 Jugendliche einer Gesamtschule an jüdische Orte. Die Reaktionen überraschten den Projektleiter

von Stefan Laurin  09.07.2025

Berlin

Millionenförderung für jüdisches Leben

Die sogenannten Staatsleistungen machten dabei fast 8,9 Millionen Euro in dieser Summe aus. Als Zuwendung für personelle Sicherheitsleistungen flossen den Angaben zufolge 6,1 Millionen Euro

 09.07.2025

Magdeburg

Staatsvertrag zur Sicherheit jüdischer Gemeinden geändert

Die Änderung sei durch den Neubau der Synagogen in Magdeburg und Dessau-Roßlau vor rund zwei Jahren sowie durch zu erwartende Kostensteigerungen notwendig geworden

 09.07.2025

Berliner Philharmonie

Gedenkfeier für Margot Friedländer am Mittwoch

Erwartet werden zu dem Gedenken langjährige Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, Freundinnen und Freunde Friedländers sowie Preisträgerinnen und Preisträger des nach ihr benannten Preises

 08.07.2025

Mittelfranken

Archäologen entdecken erste Synagoge Rothenburgs wieder

Erst zerstört, dann vergessen, jetzt zurück im Stadtbild: Die erste Synagoge von Rothenburg ob der Tauber ist durch einen Zufall wiederentdeckt worden. Ihre Überreste liegen aber an anderer Stelle als vermutet

von Hannah Krewer  08.07.2025

Biografie

»Traut euch, Fragen zu stellen«

Auch mit 93 Jahren spricht die Schoa-Überlebende Eva Szepesi vor Schülern. Nun hat sie ein Bilderbuch über ihre Geschichte veröffentlicht

von Alicia Rust  06.07.2025