9. November

»Die Demokratie ist bedroht«

Eine Hetzrede von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels im Münchner Alten Rathaus war am 9. November 1938 der zündende Funke für die Pogromnacht, den Beginn des Holocaust. Genau 81 Jahre später, am vergangenen Samstagabend, zog Michel Friedman, einer der bedeutenden Repräsentanten jüdischen Lebens in Deutschland, am gleichen Ort eine ernüchternde Bilanz. »Die Demokratie«, sagte er, »ist bedroht.«

Der Jurist, Philosoph und Publizist war zu der Gedenkstunde gekommen, die die Stadt München zusammen mit der Israelitischen Kultusgemeinde dort alljährlich veranstaltet. Und der Saal des Alten Rathauses war bis auf den letzten Platz besetzt – trotz Bundesliga in der Bayern-Arena und der zahlreichen Feiern aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls. Die Erinnerung an den »schwarzen« Tag und seine Folgen hat für die jüdische Gemeinschaft Priorität.

parallelen Als Thema seiner Gedenkrede hatte Michel Friedman Artikel 1 des Grundgesetzes gewählt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Scharf beobachtend, kühl analysierend und pointiert in der Aussage zeichnete Friedman ein Bild unserer heutigen Gesellschaft im Umgang mit Antisemitismus, das erdrückende Parallelen zur NS-Zeit aufweist, etwa die mangelnde Bereitschaft, das Problem der Judenfeindschaft wahrzunehmen und zu reflektieren.

»Wehret den Anfängen!« Diese in Ansprachen und Reden häufig verwendete und wohlklingende Forderung nannte Friedman als ein Beispiel für Schönrederei. »Wer diesen Satz gebraucht, hat nichts verstanden«, erklärte er auch mit Blick auf das Erstarken der AfD und der sich immer ungenierter artikulierenden Judenfeindlichkeit in der Öffentlichkeit. Der Terroranschlag von Halle sei die Konsequenz daraus – und nicht der Anfang.

An die Untätigkeit und fehlende Gegenwehr der breiten Gesellschaft in der Pogromnacht, die auch den rasanten Aufstieg der Nazis begünstigte, erinnerte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, in ihrer Rede. Dieses Verhalten habe das NS-Regime ermutigt, mit der Verfolgung und der späteren systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung fortzufahren.

Friedman widmete seine Rede Artikel 1 des Grundgesetzes.

»An diesem Tag erkannten die Natio­nalsozialisten, dass sich ihnen selbst bei brutalster Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft niemand in den Weg stellen würde«, hielt Knobloch fest. Die Errichtung des NS-Staates sei nur möglich geworden, weil die Gefahr lange Zeit unterschätzt, kleingeredet oder ganz ausgeblendet wurde. »Und dann«, erinnerte sie an die Entwicklung des Unrechtregimes, »war es zu spät.«

An eine derartig elementare Gefahr für die bestehende Demokratie in Deutschland glaubt die IKG-Präsidentin nicht. Das konstante Anwachsen von Hass, Extremismus und Antisemitismus belegt ihrer Ansicht nach jedoch, dass sich etwas in eine grundlegend falsche Richtung entwickle. Diese Entwicklung wiederum ist den Worten Knoblochs zufolge für die zunehmende Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft verantwortlich.

In diesem Zusammenhang wies die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden indirekt auf die AfD hin, die aus den Parlamenten heraus die Arbeit demokratischer Parteien untergrabe und Unbehagen unter Juden auslöse. »Niemand in unserem Land kann seine Hände in Unschuld waschen, wenn Menschen in Angst leben müssen«, erklärte sie.

zuversicht Auf die schwindende Zuversicht von Juden ging in seiner Begrüßungsrede auch Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ein. »In Anbetracht der Vielzahl alltäglich gewordener antisemitischer Straftaten wie Schmierereien, Droh-Mails, offenen Beleidigungen und hetzerischer Propaganda, aber auch Beschädigungen jüdischen Eigentums und körperlichen Angriffen auf Jüdinnen und Juden ist diese Reaktion nur allzu verständlich«, stellte er fest.

Nach Überzeugung Reiters, der den 9. November 1938 als Akt staatlich verordneten Terrors bezeichnete, sei es heute wichtiger denn je, für die Wahrung der Grundlagen eines unbelasteten Miteinanders einzutreten: »Wie dringend nötig das ist, hat nicht nur der Terror von Halle gezeigt, sondern beispielsweise auch eine aktuelle Studie des Jüdischen Weltkongresses zum Antisemitismus in Deutschland, wonach ein Viertel der Deutschen antisemitische Gedanken hegt.«

In die Gedankenwelt jüdischer Opfer tauchten bei der Gedenkfeier im Alten Rathaus auch die Schauspielerin Michèle Tichawsky und ihr Kollege Thomas Albus ein. Sie lasen aus Briefen und Aufzeichnungen jüdischer Menschen, die die Schrecken der Pogromnacht miterlebt hatten.
Für die musikalische Umrahmung der Gedenkstunde sorgte der Deutsch-Französische Chor München unter Leitung von Christoph Hauser. Zum Programm gehörte auch ein Lied der in Auschwitz ermordeten Ilse Weber mit dem Titel »Wiegala«, das sie für ihren Sohn und andere Kinder auf dem Weg in den Tod gesungen hatte.

Knobloch thematisierte die Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft.

In Erinnerung an den 9. November fanden am Sonntag noch zwei weitere Veranstaltungen der IKG statt. In der Herzog-Max-Straße, am Gedenkstein für die ehemalige Hauptsynagoge, gab es eine Namenslesung. Die kurzen Biografien waren in diesem Jahr Bürgerinnen und Bürgern gewidmet, die vor und während der NS-Zeit auf vorbildliche Weise für demokratische Werte einstanden.

Neben der IKG-Präsidentin beteiligten sich auch andere bekannte Persönlichkeiten, etwa Kulturreferent Anton Biebl, Hans-Joachim Heßler, Präsident des Bayerischen Oberlandesgerichts, und Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums. Daneben wurden auf dem »Weg der Erinnerung« geführte Stadtrundgänge angeboten.

Jom Haschoa

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