Porträt der Woche

Der Filmvorführer

Torsten Rottberger ist Lehrer und hilft seiner Frau im familieneigenen Kino

von Christine Schmitt  18.11.2023 18:24 Uhr

»Wir bieten Arthouse-Filme und Mainstream-Streifen an, denn wir wollen alle Geschmäcker bedienen«: Torsten Rottberger (49) aus Emmendingen Foto: privat

Torsten Rottberger ist Lehrer und hilft seiner Frau im familieneigenen Kino

von Christine Schmitt  18.11.2023 18:24 Uhr

Ruhige »Stunden, in denen ich nichts tue, sind nicht meins. Ich mag es, viel um die Ohren zu haben und in Action zu sein. Ich brauche Projekte. Als Lehrer unterrichte ich an einem Gymnasium, habe sechs Töchter, meiner Frau helfe ich im Kino, und wir vermieten zwei Ferienwohnungen. Ich war 17 Jahre lang Kantor in unserer kleinen Gemeinde Emmendingen, drei Jahre deren Vorsitzender und gehörte dem Vorstand der IRG Baden an, bis ich aus persönlichen Gründen aufgehört habe.

Wenn ich von der Schule nach Hause komme – ich habe eine Teilzeitstelle –, dann freue ich mich auf meine Töchter. Die Zwillinge sind gerade mal vier Jahre alt, die Älteste ist 21. Gleichzeitig wartet unser Kino »CineMaja« immer auf einen von uns. Wir machen alles selbst: die Buchhaltung, die Einkäufe, die Programmauswahl, den Ticketverkauf und das Abspielen der Filme. Das Kino gehörte früher meinen Schwiegereltern. Als sie meine Frau 2008 fragten, ob sie es weiterführen wolle, fiel die Entscheidung für einen Neubau, bei den alten Räumen hätte eine Sanierung nicht gelohnt, da sie nur angemietet waren.

Im Sommer bieten wir auch Open-Air-Kino an.

Also kauften meine Schwiegereltern eine ehemalige Schuhfabrik, sanierten das Gebäude und richteten neue Kinosäle ein, die auch für Theateraufführungen genutzt werden können. Und vor eineinhalb Jahren haben wir es dann doch komplett übernommen. Direkt nach Corona und vorübergehender Schließung. Vor der Pandemie kamen an den Wochenenden Hunderte Zuschauer, wovon wir im Moment weit entfernt sind. Mittlerweile sind 200 schon gut. Im Sommer bieten wir auch Open-Air-Kino an. Dann verwandeln wir unseren Biergarten in eine Kino-Oase, was bei den Zuschauern sehr beliebt ist. Aber es gibt auch schlechte Tage, an denen vielleicht insgesamt nur 20 bis 30 Gäste unsere Filme sehen wollen.

Wir lassen alle vier Filme fast gleichzeitig laufen, weil es für uns organisatorisch am einfachsten ist. Wenn viel los ist, kann ich schnell von zu Hause rüberflitzen, da das Kino nur fünf Minuten von unserem Haus entfernt ist. Vom Kino-Eintritt bleibt nach Abzug aller Kosten nichts übrig, so verdienen wir hauptsächlich an Getränken und Popcorn.

Wir bieten Arthouse-Filme und Mainstream-Streifen an, denn wir wollen alle Geschmäcker bedienen. Vor ein paar Tagen sind wir für unser Filmprogramm landesweit ausgezeichnet worden. Ehrlich gesagt, bereitet die Entscheidung, welcher Film bei uns laufen soll, meiner Frau immer viel Kopfzerbrechen, denn es ist nicht einfach, eine Wahl zu treffen. Häufig können wir Vorgaben der Verleiher nicht umsetzen. Oft müssen wir einige Zeit warten, bis wir neue Filme zeigen können.

Spontan beschlossen wir, afrikanischen Kindern ein Zuhause zu geben.

2015 saßen meine Frau und ich am Frühstückstisch und lasen Zeitung. Dann schaut sie mich plötzlich an – ich schaue sie an, und wir wussten beide, was der andere denkt: Lass uns Flüchtlingskinder aufnehmen. Da auch meine Frau Projekte mag, entschieden wir uns, als es die sogenannte »Wir schaffen das«-Welle gab, spontan, afrikanischen Kindern bei uns ein Zuhause zu geben. Ein Junge kam aus Mali, der andere aus Gambia. Das war noch vor der Geburt unserer Zwillinge. Der eine ist heute Landschaftsgärtner, der andere Elektriker. Eigentlich haben sie sich gut in unser Familienleben integriert, wenn es mitunter auch anstrengend war. Nach ein paar Jahren wurden sie flügge.

Ich selbst bin mit einem palästinensischen Ziehbruder aus dem Gazastreifen groß geworden. Mein Vater ist damals gefragt worden, ob er einen israelischen Studenten – damals gehörte der Gaza­streifen noch zu Israel – aufnehmen würde. Er hatte keine Bedenken – und die andere Familie auch nicht. Als meine Eltern mal in Israel waren, besuchten sie seine Familie in Gaza. Wahrscheinlich waren sie die einzigen Juden, die da freiwillig zu Besuch waren. Heute steht deren Haus nicht mehr, wie ich letzte Woche im Telefonat mit ihm erfuhr. Es wurde bei der aktuellen Bodenoffensive zerstört. Basem, der bei uns mehrere Jahre lebte, ist heute Finanzberater. Als jetzt die Hamas Israel angriff, telefonierten wir, geprägt von gegenseitiger Empathie und Anteilnahme.

Ich musste selten zu Hause lernen, mir reichte das konzentrierte Zuhören im Unterricht.

Schon als kleiner Junge habe ich gern Fußball gespielt. Aber erst später schloss ich mich als Stürmer einem Verein an. Geendet hat meine Laufbahn als Spielertrainer eines kleinen Dorfvereins. Der Sport hat auch Schicksal in meinem Leben gespielt. Denn während der EM 2008 war ich bei einem Spiel beim Public Viewing auf dem Emmendinger Schlossplatz. Als es zu regnen anfing, flüchteten meine Kumpels und ich in eine Kneipe – und da saß meine zukünftige Frau mit einer Freundin. Die gefällt mir, die spreche ich an, dachte ich damals. Mittlerweile sind wir lange verheiratet. Meine Frau konnte sich rasch mit dem Judentum identifizieren und konvertierte.

Ich wollte schon immer Lehrer werden, denn ich würde sagen, dass ich gut erklären kann. Komisch, nur meine Frau versteht mich nie. Meine Schulzeit war ein Selbstläufer, ich musste selten zu Hause lernen, mir reichte das konzentrierte Zuhören im Unterricht.

Meine Freundin während meiner Freiburger Studienzeit hatte sich für das Fach Sport entschieden, weshalb ich Mathe sausen ließ und mich für Chemie und ebenfalls Sport entschied. Na ja, in der Abizeitung des vorletzten Jahres schrieb mein Sportkurs: Herr Rottberger kann jede Sportart. Ich würde ergänzen: aber nicht gut. Übrigens unterrichte ich lieber Chemie als Sport, denn da sind die Schüler mit Experimenten leichter zu begeistern. Als 16-Jähriger ging ich nach Israel, mit dem Ziel, dort zu bleiben. Meine Eltern sind oft mit uns dorthin gereist. Als ich in den Chanukka-Ferien nach Freiburg zu Besuch kam, verliebte ich mich und wollte im Breisgau bleiben. Es war die Zeit des Ersten Golfkrieges. Viele Raketen wurden in Richtung Israel abgefeuert. Nach drei Monaten war die Liebe vorbei – aber ich blieb in Deutschland.

Ich würde mich als gläubig, aber nicht religiös beschreiben.

Vier meiner sechs Töchter leben noch zu Hause, die beiden ältesten studieren. Wir sind eine große Familie, denn ich habe vier Geschwister, die alle mit ihren Familien im Großraum Freiburg leben. Neulich habe ich mal unsere Cousinen und Cousins gezählt, was soll ich sagen? Bei 30 hörte ich auf.

Mein Großvater ist während der Schoa vor den Nazis nach Island geflohen, das damals unter dänischer Flagge stand. Dort wurde mein Vater 1936 geboren. Er war der erste Jude, der in Island auf die Welt kam. Als die Nazis das Sagen in dem Land hatten, mussten alle weiter nach Schweden fliehen, das damals neutral war. Aber die Kinder wurden bei der Flucht von ihren Eltern getrennt und kamen in ein Kinderheim in Dänemark. Nach Kriegsende fanden seine Eltern ihn und seine Schwestern wieder. Zehn Jahre blieben sie in Dänemark, dann beschloss mein Großvater, dass sie alle zu Fuß durch Deutschland nach Konstanz wandern sollten, weil man nur so das Land kennenlernen könne.

Die Jüdischen Gemeinden Freiburg und Konstanz gehörten damals noch zusammen, denn sie hatten so wenige Mitglieder. Schließlich wurde meinem Vater der Job des Friedhofswärters in Freiburg angeboten, den er sofort annahm. So kam es, dass wir in dem Wärterhaus mit einem »großen Garten« aufwuchsen. Besucher hatte der jüdische Friedhof damals selten bis gar nicht, denn es gab schlichtweg kaum noch Juden in Deutschland. Eine Person in drei Wochen war schon viel. Meine Eltern leben immer noch dort. Wenn sie ausziehen, soll das Haus allerdings abgerissen werden, weil seine Bausubstanz nicht mehr so toll ist. Meine Eltern, meine Geschwister, unsere Kinder – wir alle verstehen uns gut und sehen uns oft.

Als Junge sang ich im Kinderchor des Stadttheaters Freiburg. Ich singe noch immer gern. Als unsere Gemeinde, die heute 300 Mitglieder zählt, 1995 neu gegründet wurde und einen Kantor brauchte, sagte der damalige Vorstand zu mir: »Mensch Torsten, das kannst du doch machen!« Daraus wurden 17 Jahre. Mittlerweile gibt es einen Rabbiner.

Meine Träume für die Zukunft sind, das Kinogebäude aufzustocken, so dass wir alle – alle meine Kinder und Eltern und wer mag – zusammen, aber in eigenen Wohnungen dort leben könnten. Mit meiner Frau möchte ich mit einer Wohnkabine auf einem Pick-up durch die Welt reisen, so wie ich früher mit meinen Eltern durch Israel fuhr. Am meisten wünsche ich mir aber Frieden im Nahen Osten.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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