#2021JLID

Das Leben steht im Mittelpunkt

Ihr gelingt der Spagat, Biografisches und die große Erzählung zu vermischen: Die Schauspielerin Susan Sideropoulos präsentiert in ihrem Film deutsch-jüdische Geschichte. Foto: WDR/Dirk Borm

Sie ist eine von etwa 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland, betont sie gleich zu Anfang. Die Rede ist von Susan Sideropoulos, die in der von Nina Koshofer und Allon Sander produzierten TV-Dokumentation Schalom und Hallo die Zuschauer mitnimmt auf eine rund 90-minütige Reise durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Ein ambitioniertes Unterfangen, könnte man meinen, das kann schnell schiefgehen. Denn wie soll ein derart langer und vor allem ereignisreicher Zeitraum in so kurzer Zeit überzeugend präsentiert werden, ohne dass Lücken entstehen oder auf sattsam bekannte, mit Klezmer-Musik untermalte Klischees zurückgegriffen wird? Die Fallhöhe kann groß sein.

Umso überraschender das Ergebnis. Die Schauspielerin, bekannt aus der Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten, vermeidet genau das und präsentiert in dem Film ein Judentum, wie man es in den gängigen Fernsehproduktionen so detailliert und zugleich für eine möglichst große Zielgruppe zugeschnitten bisher selten zu Gesicht bekommen hat.

traditionen Aber der Reihe nach. Schalom und Hallo beginnt mit einem fröhlichen Event. Gezeigt wird die Hochzeitsfeier ihrer Freundin Romina, die zugleich ein wunderbarer Einstieg in das Thema ist. »Wir feiern dabei nicht nur die Liebe, sondern auch das Leben«, sagt die Braut und erklärt in wenigen Worten die spezifisch jüdischen Traditionen und ihre Bedeutung, allen voran das Zertreten eines Glases. »Auf diese Weise gedenken wir auch Jerusalem.«

Vergangenheit und Gegenwart würden auf diese Weise eine Verbindung eingehen – eine Tatsache, die in der Dokumentation immer wieder zur Sprache kommt und sich wie ein roter Faden durch die Produktion zieht. »Symbole und Rituale spielen bei uns bis heute eine große Rolle«, bringt es auch Sideropoulos auf den Punkt.

MIKWE Erklärt wird ebenfalls die religiöse Klammer, die wohl alle Juden vereint. »Und zwar die Tora«, betont Yechiel Brukner. »Egal ob es sich um Juden aus dem Jemen oder Russland handelt, sie alle lesen dieselben heiligen Schriften«, so der Gemeinderabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. »Der Talmud dagegen schärft das Gehirn und vermittelt eine andere Sicht auf die Welt«, ergänzt Eli Gurewitz, ein Jeschiwa-Student. Vor dem Hintergrund der Historie der mittelalterlichen SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz vermittelt Sideropoulos zahlreiche Einblicke in den Themenkomplex Religion. Beispielsweise zeigt sie eine alte Mikwe, erläutert kurz ihre Funktion und spricht zugleich darüber, welche Gefühle bei ihr ausgelöst wurden, als sie selbst vor der Hochzeit in eine solche stieg.

Selbst weniger bekannte Aspekte in der deutsch-jüdischen Geschichte werden professionell und verständlich aufgegriffen.

Auch das hat Methode in der Dokumentation. Religiöse Traditionen oder historische Entwicklungen wie die Zuwanderung von Juden nach Deutschland in den verschiedenen Epochen werden von Sideropoulos mehrfach in Bezug zu der eigenen Biografie oder Familiengeschichte gesetzt. So stammte der Vater ihres Urgroßvaters aus Litauen, war also das, was von den assimilierten deutschen Juden manchmal etwas despektierlich als »Ostjude« etikettiert wurde. Genau so etwas kann schnell schiefgehen, weil sich der Erzähler oder die Erzählerin dabei mitunter zu wichtig nimmt. Aber auch diese Klippe umschiffen die Macher von Schalom und Hallo gekonnt.

In ihren Reflexionen darüber, welche Bedeutung das alles für die eigene Person hat, nimmt sich die Schauspielerin sehr zurück. Ihr gelingt der schwierige Spagat, Biografisches und die große Erzählung zu vermischen, dabei aber stets die Balance zu bewahren. Deutlich wird dies ebenfalls, wenn das Thema Nationalsozialismus und Schoa angesprochen wird. »Als Kind habe ich nicht gewusst, welche Tragödien sich in dem Haus abgespielt hatten, in dem ich in Hamburg aufwuchs.« Denn es handelte sich um ein sogenanntes Judenhaus, wo die entrechteten Juden der Stadt vor ihrer Deportation zwangsuntergebracht wurden.

unterschiede Selbst weniger bekannte Aspekte in der deutsch-jüdischen Geschichte werden professionell und zugleich verständlich aufgegriffen. So erfährt man bei einem Gang über den jüdischen Friedhof in Hamburg davon, dass es einst eine Gemeinde mit Wurzeln auf der Iberischen Halbinsel gab, die der Hafenstadt mit ihren Kaufleuten wichtige wirtschaftliche Impulse verlieh, allen voran die Gründung der Börse. Aber auch die Unterschiede zwischen Sefardim und Aschkenasim werden skizziert, unter anderem am Beispiel der jeweiligen Grabsteingestaltung und mehrsprachiger Inschriften.

Viele Personen kommen in der Dokumentation zu Wort, füllen sie im wahrsten Sinne des Wortes mit Leben. Da ist der Musiker Daniel Kahn, der über Jiddisch als »Sprache ohne Nation, Militär und Flagge« erzählt; Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, die Input zur sozialen Interaktion zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern in der frühen Neuzeit liefert; oder Rachel Salamander und ihre Erfahrungen als Kind von Displaced Persons im Bayern der Nachkriegszeit.

Die Dokumentation schließt, wie sie begonnen hat: mit einem fröhlichen Beisammensein.

»Irgendwann haben wir begriffen, dass wir hierbleiben«, so die Literaturwissenschaftlerin. »Also muss man sein Leben in die Hand nehmen.« Und Peter Kahane erklärt, warum es Juden nach dem Krieg ausgerechnet in die DDR zog. »Meine Eltern wollten einfach mitgestalten«, so der Regisseur, der unter anderem in Ost-Berlin aufwuchs. »Sie hatten den Ehrgeiz, in ein sozialistisches Land zu ziehen, um dort die Gesellschaft mitzuentwickeln.«

botschaft Die diversen religiösen Strömungen des heutigen Judentums in Deutschland werden ebenso präsentiert wie der Umgang mit den Kaschrutregeln in den verschiedensten Milieus. Sogar der jüdische Sportverein sowie die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) kommen zu Wort.

Die Dokumentation schließt, wie sie begonnen hat: mit einem fröhlichen Beisammensein, diesmal von Sideropoulos und mehreren ihrer Gesprächspartner an einem großen Tisch mit Wein und reichlich Essen. Auch das ist eine Botschaft, und zwar eine sehr lebensbejahende und zukunftsorientierte.

»Schalom und Hallo«. Dokumentation von Nina Koshofer und Allon Sander. Am 25. Oktober um 20.15 Uhr im Ersten

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