Nicht erst seit sich das Bonmot von der jüdischen Gemeinschaft als »fünftem Stamm« Bayerns durchgesetzt hat, sind die jüdischen Gemeinden ein integraler Bestandteil des Landes. Der Erforschung ihrer Geschichte widmet sich seit 2021 eine Ad-hoc-Arbeitsgemeinschaft der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW), die dafür eng mit dem Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zusammenarbeitet.
Um dem Thema auch in der Öffentlichkeit den nötigen Raum zu geben, hat die Akademie die Veranstaltungsreihe »Kehilla und Kultusgemeinde« ins Leben gerufen, die sich speziell mit der Geschichte der jüdischen Gemeinden im Freistaat beschäftigt. In Fortsetzung von Stefan Rohrbachers Vortrag zur »Landgemeinde im Wandel der Zeit« nahm deshalb ein prominent besetztes Podium »Bayerns jüdische Gemeinden von der Weimarer Republik bis heute« in den Blick.
ARBEITSGRUPPE Den Rahmen steckte Michael Brenner, Vorsitzender der Arbeitsgruppe, in einem Impulsreferat rund um das »lange jüdische bayerische Jahrhundert« ab. Als Startpunkt wählte er das Jahr 1920, als mit dem »Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden« erstmals ein bayernweiter Dachverband gegründet wurde, dessen 198 Gemeinden im Jahr 1933 noch 42.000 Mitglieder zählten. Demgegenüber sind im 1947 wiederbegründeten, heute noch bestehenden »Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern« nurmehr 8500 Mitglieder in lediglich zwölf Gemeinden organisiert. Hinzu kommt die IKG München und Oberbayern mit ihren knapp 9200 Mitgliedern.
Diese Strukturen des jüdischen Lebens in Bayern waren auf dem nachfolgenden Podium mit IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch und Josef Schuster als Präsident des Landesverbandes und des Zentralrats der Juden prominent repräsentiert, hinzu kam Michael Brenner als internationale Kapazität in Fragen der jüdischen Geschichte. Mit Rachel Salamander übernahm eine intime Kennerin jüdischer Geschichte in der Bundesrepublik die Moderation.
Auch wenn der Titel auf Bayern verwies, waren die unmittelbaren Erfahrungen der Nachkriegsjahrzehnte zunächst vor allem lokal geprägt. Charlotte Knobloch berichtete aus den späten 40er-Jahren von einem jüdischen Leben in München, das zwischen der kleinen Gruppe überlebender deutscher Juden einerseits und der großen Mehrheit der osteuropäischen Displaced Persons im Bereich der Bogenhausener Möhlstraße andererseits geteilt war. Demgegenüber verwies Josef Schuster auf die Situation in Würzburg, wo die jüdische Gemeinde in den späten 50er-Jahren eine überwiegend »jeckische«, das heißt deutsch-jüdische gewesen sei. Anders als im Fall der IKG-Präsidentin, die eigentlich hatte auswandern wollen, habe es im Hause Schuster dezidiert keine gepackten Koffer gegeben: »Sehr bewusst« hätte die Familie damals in Würzburg gelebt.
PERIPHERIE Eine Perspektive aus der Peripherie brachte Michael Brenner ein, der 1964 im oberpfälzischen Weiden geboren wurde und in der kleinen jüdischen Gemeinde der Stadt aufwuchs, die sein aus Polen stammender Vater maßgeblich mitaufgebaut hatte. Die Strukturen seien von bescheidener Größe und er selbst bereits der letzte Schüler im jüdischen Religionsunterricht gewesen, den seinerzeit ein Wanderlehrer erteilte: »Der einzige andere Jude hing am Kruzifix«, sagte Brenner.
Auch das Thema des zeitgenössischen Antisemitismus konnte nicht außen vor bleiben.
Eindringlich schilderten die Podiumsteilnehmer weiterhin, wie nach Fragen der Restitution und Rangeleien um die Mitgliedsrechte der osteuropäischen Juden in späteren Jahren der Mitgliederschwund zur größten Herausforderung wurde, die teils existenzbedrohende Ausmaße annahm. Hatten sich kurz nach Kriegsende noch schätzungsweise bis zu 150.000 Displaced Persons in Bayern aufgehalten, verließen fast alle von ihnen das Land in den folgenden Jahren wieder. Gerade in kleineren Gemeinden stellten sie jedoch weiterhin die überwältigende Mehrheit der Mitglieder – eine bayerische Besonderheit, wie Michael Brenner betonte. Trotzdem habe sich durch Überalterung und Abwanderung die demografische Lage auch in den größeren Gemeinden immer weiter zugespitzt.
Mit der Zuwanderungswelle ab 1989/90 änderte sich die Situation abermals völlig. Statt über Gemeindezusammenschlüsse oder gar -schließungen nachzudenken, mussten die jüdischen Gemeinden nun die Integration der Neuzuwanderer in Angriff nehmen. Gerade die jüngere, im Kindesalter angekommene Generation, die in den Worten von Charlotte Knobloch »überhaupt keine Integration mehr gebraucht hat«, habe im Rückblick den Erfolg dieser Zuwanderung mit ermöglicht, die auch Zentralratspräsident Schuster als »absolut gelungen« bewertete.
ZUKUNFT Nicht außen vor bleiben konnte in der Runde auch das Thema des zeitgenössischen Antisemitismus. Charlotte Knobloch verneinte zwar für sich selbst die Frage, ob sie ihre sprichwörtlichen Koffer zu früh ausgepackt habe. Sie habe aber jedes Verständnis für junge Familien, die sich fragten, »ob ihre Kinder hier in diesem Land eine Zukunft haben«.
Auch Michael Brenner verwies darauf, dass die jüdische Gemeinschaft angesichts antisemitischer Straftaten und rechtsextremer Parteien im Bundestag sowie einer Normalisierung der radikalen Ablehnung Israels heute »frustrierter« sei als noch vor 20 Jahren. Der Blick in die Geschichte der jüdischen Gemeinden endete so mit einem nüchternen Blick auf die Gegenwart und der Erkenntnis, dass manche Herausforderungen auch in Zukunft bestehen bleiben dürften.