Interview

»Das Gedenken für Jugendliche greifbar machen«

Pascal Johanssen kuratierte die Ausstellung. Foto: Lovis Auerbach

Interview

»Das Gedenken für Jugendliche greifbar machen«

Kurator Pascal Johanssen zur neuen Ausstellung im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.04.2025 15:06 Uhr

Das Jüdische Waisenhaus in Pankow stand nach der Schließung durch die Nazis jahrzehntelang leer. 1999 wurde das Gebäude von der Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung erworben und seitdem als Begegnungsstätte genutzt. Die Stiftung war Auftraggeber der Ausstellung »Zukunft einer Gedenkkultur an die Schoa«. Was ist das Neuartige daran?
Ungewöhnlich ist sicher, dass das ehemalige Waisenhaus kein musealer Erinnerungsort ist. Im Gebäude überkreuzen sich ja die Nutzungen – heute ist hier eine öffentliche Bibliothek, auch eine Schule. Dieser Ort ist vollkommen lebendig. Täglich laufen Menschen, darunter viele Jugendliche, in das Haus, im letzten Monat waren es fast 20.000 Besucher. Eigentlich erst einmal nur um zu lernen, sie suchen Bücher, treffen sich und gehen nicht in erster Linie mit der Absicht hierher, eine Ausstellung zu besuchen. Sie entdecken die Ausstellung irgendwann selbst. Das wirkt viel stärker.

Es wird im Ausstellungstext von Versöhnung als ein »Gebot der Stunde« gesprochen …
In der Tat war es eine wiederkehrende Botschaft der überlebenden Zöglinge, die zur zentralen Aussage der Ausstellung wird. Man muss sich das klarmachen: Von den Waisen, den »Zöglingen«, wurde ein Großteil in den Konzentrationslagern ermordet, einige überlebten und konnten mit Kindertransporten fliehen. Nach über 50 Jahren kommen sie zurück: aus Israel, den USA, von überallher und besuchen den Ort ihrer Kindheit. Sie treffen sich hier über mehrere Jahre, sprechen mit den heutigen Deutschen und reflektieren ihre Biografie. Am Ende halten sie fest, dass sie trotz des erlittenen Leids zur Versöhnung fähig sind, ja sie sogar anmahnen. Das ist ein unglaubliches Vorbild. Die »Waisenhausgespräche« – eine Veranstaltungsreihe, die es schon seit vielen Jahren gibt – versuchen, diese Haltung weiterzuleben: So gab es zu Beginn des Ukraine-Kriegs ein Treffen zwischen ukrai­nischen und russischen Studierenden, in dem der Versuch unternommen wurde, die verfeindeten Brudervölker zueinander zu bringen. Zumindest in einer kleinen Runde hat das wunderbar geklappt.

Sie sind Kurator für zeitgenössische Kunst. Diese Ausstellung zeigt keine Kunst, sondern beschäftigt sich mit einem historischen Thema. Wie passt das zusammen?
Als Kurator versuche ich oft, mit Ausstellungen zu experimentieren. So war das hier auch. Am Ende geht es darum, Ausstellungen zu entwickeln, die man sich hoffentlich immer wieder ansehen will. Im besten Fall bieten sie ein multisensorisches Erlebnis. Künstlerische Herangehensweisen können die reine historische Dokumentation um bestimmte Facetten erweitern. Kunst kann zur Geschichte der Schoa oder zeithistorischen Fragen in Beziehung gesetzt werden. Ich denke aber vor allem, dass Kunst helfen kann, ein neues Kapitel der Erinnerungskultur aufzuschlagen. Unsere Erinnerung braucht heute neue Formen, auf die die jüngere Generation reagiert. Gedenken kann nicht mehr verordnet werden. Zeitzeugen sind nicht mehr da. Die heutige Generation muss sich die Beschäftigung mit Fragen der Geschichte, speziell der Schoa, selbst erobern. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass dies in der Unübersichtlichkeit der aktuellen Probleme, Themen und Medien dann doch wieder kein Selbstläufer ist. Es hilft schon, Settings und Darstellungsweisen zu schaffen, die den jüngeren Besuchern Orientierung bieten.

Wie soll das gelingen?
Aus meiner Sicht in drei Schritten: Erstens kann man nur mit zeitgemäßen Formaten die Aufmerksamkeit von Jugendlichen gewinnen. An dieser Stelle ist die mediale Sozialisation einfach eine Realität. Dann kann eine Ausstellung, noch dazu an einem authentischen Ort wie dem Waisenhaus, Erlebnisse bieten, die die Jugendlichen nicht vor den kleinen Bildschirmen ihrer Handys machen können. Die Ausstellung, das Haus, das sind eben doch physische Räume, die mit allen Sinnen erfahren werden. Schließlich wäre es zu hoffen, dass eine dieser Erfahrungen so eindrücklich nachklingt, dass sich eine vertiefende Beschäftigung mit einer bestimmten Frage anschließt. In unserer Ausstellung gibt es zum Beispiel einen kleinen Raum, in dem die Besucher mit einer audiovisuellen Installation allein sind; dieser künstlerische Film wurde von einem Komponisten und einem 3D-Designer entwickelt, Schauspielstudenten der Ernst-Busch-Hochschule haben den Text eingesprochen. Der Film versucht, die Sicht eines Zöglings, Leslie Brent, einzunehmen, und erzählt die Geschichte seiner Flucht mit Rückblenden zum Waisenhaus.

Da gibt es ja vielleicht schon altersmäßig eine Identifikationsmöglichkeit?
Ja, soweit wir das bisher beobachten konnten, scheint das zu funktionieren. Da gibt es 15-Jährige, die mehr als anderthalb Stunden in der Ausstellung bleiben. Ohne Gruppe, ohne Anleitung. Wahrscheinlich ist es aber auch so, dass gerade die Ausstellung im Waisenhaus so wirken kann: Hier geht es nicht um das große Ganze der Schoa – also die Ermordung aller Juden in Europa –, sondern um ein ganz spezifisches Haus mit einer überschaubaren Zahl an Kindern in einer bestimmten Zeit, deren Biografien wir folgen. Das macht das Thema greifbar.

Mit dem Kurator der Ausstellung sprach Gerhard Haase-Hindenberg.

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