Porträt der Woche

Bits und Brachot

Nur am Schabbat offline: Chana Karmann-Lente Foto: Moritz Piehler

Ich wurde in Hagen im Sauerland geboren. Schon als Kind habe ich mich sehr für Tora und Religion interessiert. Nach der Schule habe ich mich dann umgesehen und fand, die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien sei der beste Ort, um zu studieren. Deshalb habe ich dort angefangen. Im Rahmen des Studiums konnte ich dann für ein Jahr mit einem Stipendium nach Jerusalem gehen. Zum Abschluss dieses Jahres habe ich bei Ausgrabungen in Gamla mitgearbeitet. Das war sehr spannend, weil sie dort gerade die ersten Überreste einer alten Synagoge entdeckt hatten. Damals liebäugelte ich mit dem Gedanken, Archäologin zu werden.

Meine Zeit in Israel war für mich sehr prägend. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich dort meine Frau Barbara kennengelernt habe. Wir sind mittlerweile seit 25 Jahren ein Paar. Heiraten durften wir in Deutschland erst vor einigen Jahren. Sie ist Hamburgerin, deshalb hat es uns hierher verschlagen.

Wir leben mit unseren drei Töchtern etwas außerhalb der Stadt. Seitdem wir Eltern sind, haben wir versucht, das Religiöse stärker in unser Leben einzubeziehen. Wir haben in mehreren Gemeinden in und um Hamburg versucht, uns zu integrieren. Ich habe meine Torakenntnisse wieder aufgefrischt, weil ich dachte, es wäre schön, wenn auch die liberalen Gemeinden klassische Toralesungen hätten. Aber selbst dort gibt es viele Gemeinden, die sich mit einer Frau als Vorbeterin schwertun und doch lieber eine männliche Stimme hören wollen.

Ich hatte davor schon in Seminaren öfter Kontakt zu Masorti-Gemeinden und dachte, so etwas möchte ich für meine Kinder auch gern haben. Die unterschiedlichen Strömungen im Judentum sind nicht einfach zu erklären. Auch innerhalb der konservativen Gemeinden gibt es unterschiedliche Flügel.

Unsere Gemeinde »Kehilat Beit Shira«, die wir gegründet haben, gehört da eher zum linken Flügel. Im religiösen Sinne sind wir zwar traditionell, aber eben egalitär, also gleichberechtigt, sodass Frauen auch aus der Tora lesen und Rabbinerin werden können. Vielen fällt es schwer zu begreifen, dass es Menschen gibt, die nicht orthodox sind und dennoch religiös. Aber in diese Schubladen passen ich und meine Familie ohnehin nicht.

IT-Bereich Als 1993 meine Mutter starb, habe ich gedacht, dass ich an meinem Leben etwas ändern muss. Ich wollte nicht immer weiter nur lernen, lernen, lernen. Ich hatte da bereits ein Jahr an meiner Doktorarbeit gesessen und machte dann eine Zusatzausbildung zur Betriebswirtin mit Schwerpunkt Informatik. Darüber bin ich in meinem jetzigen Job gelandet. Ich arbeite im IT-Bereich eines globalen Konzerns.

Morgens fahre ich von dort, wo wir wohnen, in die Stadt. Nach acht bis neun Stunden setze ich mich dann abends wieder in den Zug und beginne auf dem Heimweg mit meinen ehrenamtlichen Zweitjobs: Ich bereite Aktionen und Gottes- dienste der Gemeinde vor, lerne mit dem iPod für Seminare und Workshops, gestalte Flyer und kümmere mich um die Öffentlichkeitsarbeit.

Ich liebe globale Sachen. Dieses und letztes Jahr hatten wir einen Aktionstag zum sogenannten Global Day of Jewish Learning. Wir waren die einzige Hamburger Gemeinde, die sich daran beteiligt hat. Bei dieser Gelegenheit haben wir vor vier Wochen unser neues Lernhaus »Machon Aviv« eröffnet. Viel Inspiration habe ich dafür in zwei Sommeraufenthalten an der »Conservative Yeshiva« in Jerusalem bekommen.

Das intensive traditionelle Talmudstudium am Morgen über spannendes gemeinsames Lernen am Nachmittag und die gemeinsamen Gebete haben meine Ideen für das Lernhaus sehr geprägt. Die gesamte Projektplanung dafür habe ich im August beim »Summer of Change«-Workshop am Stockholmer Paideia-Institut gemacht.

Meine Frau ist Historikerin. Aber sie bleibt zu Hause, solange unsere jüngste Tochter noch nicht zur Schule geht. Ohne Barbara würde ich das alles gar nicht schaffen. Der Höhepunkt unserer Woche ist auch deshalb der Schabbat. Da bleiben Computer und Telefon aus. Entweder gehen wir zum Gottesdienst oder unternehmen etwas anderes gemeinsam als Familie, das ist unser Erholungstag.

Sonst ist mein Computer ja immer an, auch, um weltweit mit Leuten in Kontakt zu bleiben. Vor allem bei dem Sommerworkshop in Schweden habe ich sehr viele Menschen kennengelernt, die Ideen zu religiösen Fragen, aber auch zu ganz praktischen Dingen austauschen und diskutieren wollen. Die Plattform dafür ist ROI, die Community of Young Jewish Innovators. Das ist ein Netzwerk, in dem man sich gegenseitig bei Projekten hilft. Wenn ich zum Beispiel ein Logo entwickeln möchte, kann ich einfach jemanden aus dem ROI-Netzwerk fragen.

Netzwerk Zu meinen Studienzeiten in Heidelberg waren wir ein ganz kleiner Jahrgang, eine enge Gemeinschaft, man kannte sich. Aber der Kontakt hat sich mit den Jahren verlaufen. Ein festes Netzwerk ist daraus nicht entstanden. Die moderne Kommunikation macht das heute viel einfacher, deshalb habe ich mich sogar durchgerungen, für die Gemeinde eine Facebookseite einzurichten. Für mich privat hätte ich das nicht gemacht. Aber gerade, um in Kontakt zu bleiben mit anderen Menschen weltweit und Ideen zu teilen, ist diese internationale Vernetzung ganz wichtig. Für mich hat das auch ganz viel mit meiner eigenen jüdischen Identität zu tun.

Mein Ideal für unser Machon-Aviv-Lernhaus wäre es, einen ständigen Raum zu schaffen zum Lernen und zum Austausch. Eine feste Anlaufstelle. In Hamburg ist es aber sehr schwierig, geeignete Räume zu finden. Bisher sieht es so aus, dass wir nur an einigen Abenden unter der Woche und an Sonntagen Angebote machen werden.

Ich habe viele Kontakte zu Professoren und Wissenschaftlern, die Vorträge halten wollen. Daneben soll es Unterricht für Kinder geben, Hebräischstunden und Kurse zum Toralesen. Was ich mir immer vorstelle, ist so ein Ort wie die Synaplexe in den USA. Dort halten die verschiedensten Gemeinden ihre Gottesdienste getrennt voneinander ab, und gleichzeitig ist es eine Stätte des Austauschs und der Begegnung. Ich denke, das wäre auch hier schön, wenn man beispielsweise gemeinsam lernen würde, Kurse anbieten für liberale über orthodoxe bis hin gerade auch für säkulare Teilnehmer. Im Kunstforum zur Chagall-Ausstellung gab es das hier in Hamburg vergangenes Jahr im Herbst. Die hatten einen Familientag für jüdische Kultur organisiert, und da saßen einmal alle Hamburger jüdischen Gemeinden an einem Tisch.

Für meine Töchter hoffe ich, dass ich ihnen etwas mitgeben kann von meiner Begeisterung fürs Judentum. Sie haben es nicht immer einfach, besonders in der Schule. An den jüdischen Feiertagen lassen wir sie vom Unterricht befreien. Jetzt, um die Adventszeit, sind sie die Einzigen, die nicht mitfeiern, und auch am Religionsunterricht nehmen sie nicht teil. Wir versuchen aber, sie so offen wie möglich zu erziehen. Unsere Kinder haben muslimische und christliche Freunde.

Im Herbst waren wir mit der ganzen Familie in Israel. Die Kinder lieben besonders die Wüste. Zu jedem Urlaub in Israel gehören für uns einige Wanderungen im Negev. Diesmal sind wir im Timna-Tal gewandert und geklettert. Zwar fiel es mir schwer, wegen der Reise an Jom Kippur nicht in unserer Gemeinde in Hamburg zu sein. Aber ich denke, es war eine gute Entscheidung. In diesem Jahr habe ich einfach mal zuerst an die Familie gedacht.

Aufgezeichnet von Moritz Piehler

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