Nachruf

Berliner Steppke aus Sibirien

Rudolf Rosenberg sel. A. (1931–2022) Foto: Gregor Zielke

Nachruf

Berliner Steppke aus Sibirien

Rudolf Rosenberg war Zuwanderer, aber auch ein waschechter Berliner. Nun ist der immer aktive Ehrenamtliche gestorben

von Judith Kessler  10.02.2022 08:39 Uhr

»Ich bin zu 50 Prozent Ungar«, rechnete Rudolf Rosenberg einmal vor. Sein Vater Samuel Rosenberg, 1893 in St. Petersburg geboren, kam als russischer Soldat 1916 in österreichisch-ungarische Gefangenschaft. So lernte er in Budapest Rudolfs Mutter Szerén kennen, eine ungarische Jüdin.

Rudolf wurde unter anderem deswegen in Berlin geboren, weil sein Vater an der ungarischen Revolution teilgenommen hatte, ausgewiesen wurde und in Berlin gelandet war. Szerén war ihm aus Ungarn nachgereist, und 1924 wurde geheiratet. Samuel Rosenberg eröffnete eine Schneiderwerkstatt hinterm Alexanderplatz. Hier, im Scheunenviertel, wurde Rudolf 1925 geboren, und hier wuchs er auf.

Der kleine Rudi kannte jeden Stein im Kiez, die Prostituierten vor den Kneipen, die Arbeitslosen. »Ich bin mit meinem Roller immer bis zum Lustgarten gefahren«, manchmal auch zum Kaufhaus Tietz, wo man umsonst Schallplatten hören konnte, und ins Kino. Das »Babylon« war gleich um die Ecke, da hat er Emil und die Detektive gesehen, ging sonst aber lieber in eines der vielen kleinen Floh-Kinos, weil es da nur zehn Pfennig kostete und im Babylon 25. »Für 25 Pfennige gab es am Alex bei ›Aschinger‹ Würstchen mit Kartoffelsalat und soviel Brötchen, wie man essen konnte.«

SCHULE 1931 kam Rudi zur Schule – erst in eine jüdische Privatschule in der Kaiserstraße, dann in die Große Hamburger Straße (»Das war eine Knabenschule, deswegen war ich beim Purimspiel immer die Esther«). Wegen Platzproblemen war seine Klasse aber in der Oranienburger Straße untergebracht – dort, wo Rudolf 75 Jahre später wieder ein- und ausging, um »seinen« Veteranenklub zu leiten.

Rudolf Rosenberg war ein wirklicher Zeitzeuge. Im August 1931 hat er miterlebt, wie bei einer Arbeiterdemonstration vor dem »Babylon« plötzlich Schüsse fielen.

Rudolf Rosenberg war ein wirklicher Zeitzeuge. Im August 1931 hat er miterlebt, wie bei einer Arbeiterdemonstration vor dem »Babylon« plötzlich Schüsse fielen. »Ich sah wie ein Polizist sofort umfiel und ein zweiter erst auf die Knie sank und dann umsackte«. Damals wusste niemand, dass einer der Mörder der spätere Stasi-Chef Erich Mielke war.

Er hat auch gesehen, wie die Stimmung kippte im Kiez. »Alle haben KPD gewählt, vor Wahlen hingen überall rote Fahnen und dann plötzlich Hakenkreuze.« Er lächelt: »Die Berliner waren sparsam und haben die Hakenkreuze auf ihre roten Fahnen gemalt«. Nach den Fahnen ging es an die Menschen. Rudi erinnert sich, wie SA-Leute einem Ostjuden im Kaftan mit Streichhölzern den Bart langsam abbrannten und die Berliner zuguckten und niemand etwas unternahm.

Einige Male fuhr seine Mutter mit ihm nach Budapest, die Verwandten besuchen, Oma und Opa – sie alle wurden später in Auschwitz vergast.

FLUCHT Ende 1935 war es dann mit Budapest und mit Berlin vorbei. »Im Dezember sind wir weg … in die falsche Richtung«, aber es gab keine andere. Die Aufenthaltserlaubnis der Eltern war abgelaufen. Sie hatten auch kein Geld mehr, nachdem sie auf Betrüger hereingefallen waren, die ihnen ein Visum für Costa Rica beschaffen sollten.

Der Vater, der 20 Jahre zuvor Russland verlassen hatte, kehrte nun mit seiner Familie in ein neues Land, die Sowjetunion, zurück. Rudolf, zehneinhalb, kam in Leningrad in eine deutsche Schule, weil er nur Deutsch und Ungarisch verstand, und besuchte das »Deutsche Bildungshaus«, wo er Erich Weinert und Ernst Busch, der ihn den »Berliner Steppke« nannte, kennenlernte.

Rudolf, zehneinhalb, kam in Leningrad in eine deutsche Schule, weil er nur Deutsch und Ungarisch verstand.

1938 wurde sein Vater, der jüdische Schneidermeister, als »deutscher Spion« verhaftet. Das war absurd, aber man hatte einen jüdischen Kollegen in der Konfektionsfabrik aufgetrieben, der aussagte, der »Rosenberg hat gesagt, in Deutschland hätte er mehr Butter gegessen als hier«. »Das war Artikel 58, Paragraf 10 – antisowjetische Propaganda«. Samuel Rosenberg wurde zu zehn Jahren Straflager im Fernen Osten verurteilt. Rudi blieb mit seiner Mutter allein. Er lernte Elektriker.

blockade Als der Krieg begann, war er 16 und ging als »Freiwilliger in die Kämpfenden Truppen« in eine Einheit, die mit Befestigungsanlagen beschäftigt war. Wie seine Mutter war auch Rudi während der gesamten Blockade in Leningrad. Als der Krieg endlich vorbei war, arbeitete er als Elektrotechniker in Sibirien, machte nebenbei das Abitur und kehrte dann nach Leningrad zurück, um Anglistik zu studieren.

Nach dem Studium wurde ihm ein Arbeitsplatz in Rjasan zugewiesen, als Dozent an der Pädagogischen Hochschule. Rudi holte die Mutter nach und den Vater, als der 1953 nach Stalins Tod rehabilitiert wurde.

In Rjasan blieb Rudi bis zu seiner Ausreise 1993. Er heiratete, promovierte, lehrte Anglistik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts, war Lehrstuhlleiter und Dekan der Hochschule und 20 Jahre lang regelmäßig Gastprofessor an der Pädagogischen Hochschule Erfurt.

MAUERFALL Als er nach dem Mauerfall mit dem Senatsprogramm für ehemalige Berliner zu Gast in seiner alten Heimat war, bot man ihm an, er könne sofort zurückkommen. Nachdem auch die Kinder einverstanden waren, ging die lange Reise des »Berliner Steppke« zu Ende.

Wie wohl sein Vater die Entscheidung gefunden hätte, habe ich ihn einmal gefragt. »Ich weiß nicht«, überlegte er vorsichtig, »die Sowjetunion hat ihm mehr Leid bereitet als Deutschland. Er hat immer gesagt, Solschenizyns ›Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‹ wäre das reinste Sanatorium gewesen im Vergleich zu dem, was er erlebt hat.«

Er besaß ein paar besondere Eigenschaften: Optimismus, Diplomatie, Gelassenheit, einen feinen Humor und sanfte Autorität.

Und er selbst? Hat er es bereut, zurückgekommen zu sein? »Niemals. Es ging mir nie so gut wie jetzt, obwohl ich eine Professur hatte und ein schönes Gehalt.« Gut ging es Rudolf Rosenberg in Berlin auch deshalb, weil er nicht nur sprachlich hier »in seinem Element« war und ein ausgefülltes Leben hatte, anerkannt und gebraucht wurde.

KLUBS Er gab Deutschunterricht für Senioren, hielt Vorträge und Seminare über Integration und Judentum, leitete mit seiner Frau Betti Seniorenfreizeiten der ZWST in Bad Kissingen und war Vorstandsmitglied und Vorsitzender diverser Vereine – des Klubs der Kriegsveteranen, des Veteranenklubs Ni Zachon, des Treffpunktes Achva.

Und gut ging es ihm, weil er ein paar besondere Eigenschaften besaß: Optimismus, Diplomatie, Gelassenheit, einen feinen Humor und sanfte Autorität. Damit »agitierte« er auch die zugewanderten Senioren, weil er nicht verstand: »Wie man so sitzen und nichts tun kann oder immer sofort ›Perewod!‹ (›Übersetzung!‹) schreit, wenn einer mal Deutsch spricht.«

Nun ist Rudi gestorben. Und wir vermissen ihn.

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