Porträt der Woche

Berliner Junge

»Für mich war Israel bislang generell eine Option für meinen Ruhestand«: Arno Finkelmann Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

Berliner Junge

Arno Finkelmann lebte in Israel und führt nun ein Damenmode-Fachgeschäft

von Gerhard Haase-Hindenberg  30.10.2023 15:06 Uhr

Im Jahr vor dem Mauerbau bin ich im Westteil Berlins zur Welt gekommen, ich bin also ein echter Berliner. Seit vielen Jahren betreibe ich für Damen jenseits der 65 ein Mode-Fachgeschäft, wie es früher viele gab. Damals war es viel einfacher, mit so einem Laden Geld zu verdienen, denn das Kaufverhalten findet ja mittlerweile vielfach im Internet statt.

Allerdings habe ich darauf reagiert und verkaufe inzwischen auch sehr viel online. Das gleicht den Rückgang der Umsätze im Ladengeschäft oft aus. Ich habe eine Adresskartei von 12.000 Kunden – und das weit über Berlin hinaus, bis in die Schweiz, Österreich und die Niederlande. Diese schreibe ich regelmäßig an und stelle in Bild und Text die jeweils aktuelle Mode vor.

Außerdem habe ich in Berlin eine große Zahl an Stammkundinnen, und das zum Teil schon in der dritten Generation. Deren Großeltern haben schon hier gekauft, als der Laden noch von meinem Vater geführt wurde, der das Geschäft in den 60er-Jahren eröffnet hatte. Übrigens war zunächst keineswegs klar, dass ich einmal sein Nachfolger werden würde.

Kibbuzleben in Israel

Nach dem Abitur bin ich nach Israel gegangen. Ich kam aus der zionistischen Jugend, und dort lebte und arbeitete ich in verschiedenen Kibbuzim. Zunächst in Gal’ed, wo überwiegend Deutsch gesprochen wurde. Dieser Kibbuz war von deutschen Juden gegründet worden. Das hat vieles für mich vereinfacht. Parallel zu meiner Arbeit im Kibbuz habe ich den Ulpan besucht, um Hebräisch zu lernen. Danach war ich noch ein halbes Jahr in Jotvata im südlichen Negev, unweit von Eilat. Das war ein internationaler Kibbuz, wo wir bei großer Hitze in den Dattelplantagen gearbeitet haben.

Schließlich habe ich in Jerusalem am »David Yellin College of Education« ein Studium begonnen, um Lehrer zu werden. Nach dem ersten Staatsexamen bin ich jedoch der Liebe wegen zurück nach Deutschland gegangen. Meine Mutter hat sich über meine Rückkehr gefreut, aber mein Vater hätte es lieber gesehen, wenn ich in Israel geblieben wäre. Das nämlich war eigentlich sein Jugendtraum, den er jedoch nie verwirklichen konnte. Er war in Berlin geblieben, wo er nach der Schoa zusammen mit alteingesessenen jüdischen Familien die Betergemeinschaft der Synagoge am Fraenkelufer mit aufgebaut hatte.

Als Kind und Jugendlicher war ich in verschiedenen jüdischen Institutionen aktiv. Bei Makkabi habe ich Fußball gespielt, in den Ferien war ich auf Machane, später auch als Madrich. Ganz wesentlich für meine jüdische Identität war das jüdische Jugendzentrum in der Joachimsthaler Straße. Ohne dieses Jugendzentrum wäre ich nicht das, was ich heute bin. Ich besuchte nämlich eine öffentliche deutsche Schule, und das war mit Schwierigkeiten verbunden.

Ich trug mit Stolz den Magen David, weshalb es immer wieder indirekte Anspielungen gab.

Ich trug mit Stolz den Magen David, weshalb es immer wieder indirekte Anspielungen gab, aber auch geradezu absurde Vorgänge. Da war zum Beispiel ein Chemielehrer, ein ehemaliger SS-Mann, der von einem schlechten Gewissen geplagt wurde. Deshalb hat er mir immer die besten Zensuren gegeben. Aber wer will schon von einem Alt-Nazi bevorzugt werden?

Im Jugendzentrum waren wir jüdischen Berliner Kinder unter uns. Die Gemeinde war damals, also lange vor der Zuwanderung der sowjetischen Juden, noch relativ klein. Die Mitglieder fühlten einander eng verbunden. Manche aus der Generation vor uns kannten sich aus den Lagern.

Mein Vater zum Beispiel war mit dem späteren Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski und dem berühmten Kantor Estrongo Nachama zusammen in Auschwitz. Mit Galinski sprach mein Vater überwiegend Jiddisch, was ich nicht verstand. In manchen Fällen war das ja vielleicht sogar beabsichtigt. Viele haben ehrenamtlich für die Gemeinde gearbeitet. Ich zum Beispiel im Finanzausschuss. Damals herrschte in der Berliner jüdischen Gemeinde ein ganz anderer Zusammenhalt als heute unter der derzeitigen Führung.

Ausbildung bei Karstadt

Nachdem ich aus Israel nach Berlin zurückgekehrt war, habe ich bei Karstadt eine Ausbildung angefangen und berufsbegleitend Betriebswirtschaft studiert. Neben der beruflichen Praxis gab es Seminare in Mathematik, Wirtschafts- und Arbeitsrecht sowie in anderen Fächern. Die Seminare und Abschlussprüfungen fanden an einem Institut in Ibbenbüren, einem kleinen Ort bei Münster, statt.

Parallel dazu habe ich innerhalb des Karstadt-Konzerns die Abschlüsse als Handels­assistent, Substitut und Abteilungsleiter gemacht. Das war der Ausbildungsweg für den Führungsstab. Dabei wurde ich in verschiedenen Karstadt-Filialen eingesetzt, zunächst in den beiden ersten Jahren hier in Berlin.

Dann war ich nacheinander in Köln, Bielefeld, Hamburg, Nürnberg und Recklinghausen als Einarbeiter zum Abteilungsleiter tätig und schließlich in Wiesbaden als Einarbeiter zum Geschäftsführer. Danach ging’s nach Essen in die Hauptverwaltung des Konzerns zum Zentraleinkauf. Die Karriere ging also ständig bergauf, bis ich eines Tages keine Lust mehr hatte.

Ich wollte eine Familie gründen und nicht jedes Jahr umziehen müssen. Hinzu kam eine antisemitische Beleidigung durch einen Kollegen auf einem Betriebsfest, was mir den Absprung erleichterte. Eigentlich aber hatte ich immer schon im Hinterkopf, mich einmal selbstständig zu machen. Das musste nicht unbedingt das väterliche Geschäft sein, aber als es für meinen Vater immer schwerer wurde, hat es sich im Jahr 1988 angeboten, hier einzusteigen.

Es war ein gut eingeführtes Geschäft, zu dem Kundinnen aus ganz West-Berlin kamen. Vor der Tür gibt es zwei U-Bahn- und zwei Buslinien, es existiert also eine ideale Verkehrsanbindung, was immer gut fürs Geschäft ist. Allerdings ist die ansässige Bevölkerung heute eine andere. Aber es kam ja inzwischen der Online-Handel dazu. Die Zeiten ändern sich – und die Handelsformen auch.

Seit 35 Jahren verheiratet

Vor fast vier Jahrzehnten habe ich meine Frau kennengelernt, mit der ich jetzt bereits 35 Jahre verheiratet bin. Es war mir von Anfang an sehr wichtig, eine jüdische Frau zu heiraten, und so ist es wieder das Jugendzentrum gewesen, wo unsere erste Begegnung stattfand. Und zwar an einem Abend mit jüdischen Tänzen. Sie war mit ihrer Familie schon in den 70er-Jahren aus Taschkent nach Berlin gekommen und stammt aus einer Generation, für die es in der damaligen So­wjetunion schwierig war, das Judentum zu leben. Heute aber leben wir das Leben einer traditionellen jüdischen Familie, und diese Werte haben wir auch an unsere drei Söhne weitergegeben.

Ich spreche Hebräisch, und sowohl meine Frau als auch ich haben in Israel viele soziale und familiäre Kontakte.

Ich fasse Religion als eine sehr persönliche Sache auf, und kein Rabbiner kann mir vorschreiben, was ich zu tun habe. So öffne ich am Samstag meinen Laden und ruhe mich eben am Sonntag aus. Denn das Wochenendgeschäft muss ich schon mitnehmen. Meinen Ruhestand in einigen Jahren, so ist unser Plan, möchten meine Frau und ich im Frühling und in den Sommermonaten in Berlin verleben, den Herbst und den Winter aber in Israel, sofern es die aktuelle Lage dann erlauben sollte.

Ich spreche Hebräisch, und sowohl meine Frau als auch ich haben in Israel viele soziale und familiäre Kontakte. Bis zu den Terroranschlägen der Hamas habe ich Israel generell als eine Option betrachtet, falls in Deutschland Leute wie Björn Höcke in politische Verantwortung gewählt werden sollten. Ich bin einmal eigens nach Brandenburg gefahren, um Höcke auf einer Kundgebung zu erleben. Der fanatische Hass in den Augen seiner Anhänger war erschreckend.

Wie wir aus der Geschichte gelernt haben, ist es schlecht für eine Demokratie, wenn die Ränder stark werden und die Mitte schwach. Sollte das eintreten, würde ich mit meiner Frau dieses Land ganz hinter mir lassen. Noch aber öffne ich jeden Tag mein Geschäft.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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