Initiative

Bekenntnisse auf YouTube

Schon als Kind war sich Anna Eret sicher: »Ich werde einmal Filme machen, die diese Welt verändern.« Auch wenn die heute 32-Jährige inzwischen weiß, dass Kunstwerke allein kaum für Umstürze sorgen können, hat sie sich den Schwung ihrer kindlichen Vision bewahrt, jenen selbst gesetzten Anspruch, mit ihrer Arbeit etwas in Bewegung setzen zu wollen. »Wenn ich auch nur einen Menschen zum Nachdenken anregen kann, dann hat meine Arbeit ihren Sinn und Zweck erfüllt.«

Ihr erster Kurzspielfilm To Meet Esther, der sich gerade in der Postproduktion befindet, ist ganz von dieser Selbstverpflichtung erfüllt. Wenn sie von ihrem Projekt spricht, spürt man ihre unbändige Freude darüber, etwas geschaffen zu haben, dass dem eigenen Auftrag sehr nahekommt. »Ich gehe nie einen leichten Weg«, sagt sie. »Ich suche mir immer große Aufgaben und Herausforderungen.«

DISKRIMINIERUNG Im Jahr 2000 siedelte Anna Eret im Alter von elf Jahren aus der Ukraine nach Deutschland über. Sie kam mit großen Illusionen ins Land und ahnte nicht, wie schwierig die Eingewöhnung sein würde. Anna Eret hat ukrainische, russische, litauische und jüdische Wurzeln, die Vielfalt ihrer Herkunft erfüllt sie mit Stolz.

In Frankfurt an der Oder erlebte sie als einzige Ausländerin in der Klasse, als russischsprachiges Mädchen, offene Diskriminierung. Sie verschloss sich vor den anderen, zog sich zurück, wurde »aber auch sehr stark dadurch«, weil sie sich nicht unterdrücken ließ, weil sie lernte, Enttäuschungen und Zurücksetzung zu verarbeiten. In jenen Jahren des Ausgeschlossenseins verstärkte sich ihre ohnehin große Energie und Unbeirrbarkeit, die sie heute für ihre Regiearbeit so dringend braucht. Auf sich zurückgeworfen, erwarb sie »ein eigenes Wissen über die Welt«, das sie heute gern vermitteln möchte.

Als sie dann mit 16 Jahren nach Berlin kam, wurde alles einfacher. Sie fühlte sich in dieser Stadt sofort heimisch, ging gern zur Schule. Sie bewarb sich mit 18 Jahren an der Babelsberger Filmuniversität für ein Regiestudium, wurde aber abgelehnt, vermutlich auch, weil sie zu jung war. Aber während des Studiums der Medienwissenschaften in Potsdam und Berlin, das sie stattdessen begann, drehte sie schon kleinere Filme, später hat sie Dokumentationen, Imagefilme und Werbung inszeniert und fast zehn Jahre als Producerin gearbeitet, oft bei Filmen mit jüdischen Themen. »Das lässt mich einfach nicht los«, sagt sie.

IDENTITÄT Ihr großes Thema fand sie schon früh, diese Suche nach der jüdischen Identität, diese Frage nach einem heutigen jüdischen Leben beschäftigte sie immer. Anna empfand einen tiefen, inneren Zwiespalt, eine Zerrissenheit, unter der sie litt. Sie führte ein Doppelleben in einer nichtjüdischen Welt. Die Eltern warnten sie davor, über ihre jüdische Herkunft zu reden, niemandem zu sagen, dass sie auf eine jüdische Schule ging. Sie fürchteten um die Sicherheit des Kindes. »Diese Angst saugen Juden schon mit der Muttermilch auf«, meint Anna. »Nicht nur mir ging es so.«

Diese Sorge vor einem Bekenntnis spiegelt sich in To Meet Esther. Der Film erzählt von dem kleinen Mädchen Marianna, das vor der ganzen Klasse von ihrer jüdischen Familie spricht. Die Eltern reagieren entsetzt, als sie von dem Vortrag erfahren, sie haben dem Kind immer verboten, darüber zu sprechen.

Die Vielfalt ihrer Herkunft erfüllt sie mit Stolz.

Vor allem die verschiedenen Reaktionen der Familie und des Umfeldes waren Anna Eret bei ihrer Geschichte wichtig, die Furcht vor den Folgen, die Ablehnung. Aber von dem Mädchen und seinem eigenmächtigen Reden gehen auch Ermutigung und Verständnis aus. Im Film gibt es einige Anspielungen auf die Geschichte der Königin Esther, die mit ihrem Mut und ihrem Bekenntnis das jüdische Volk errettet hatte, woran das Purimfest erinnert. Marianna fühlt sich von der biblischen Königin inspiriert. Der kurze, sehr dicht erzählte Film hat viele Themen und Schichtungen, und man spürt, dass er die Vorstufe für einen langen Spielfilm sein soll, in dem sich die Motive dann ganz entfalten können.

Anna Eret hat sich lange auf diesen Dreh vorbereitet, nahm sich viel Zeit für ihr Drehbuch und für das Casting. Doch im Grunde war ihr ganzes bisheriges Leben, waren ihre persönlichen Erfahrungen eine Vorbereitung auf diese Dreharbeiten, die sie im Kreis ihrer Mitstreiter als beglückend empfand.

»Manchmal waren die jüdischen Darsteller, etwa der Eltern, so berührt, dass sogar Tränen flossen. Viele haben von ihren eigenen Erfahrungen, ihren eigenen Ängsten gesprochen«, erinnert sich Anna, die sich hier endlich als Regisseurin angekommen sieht.

HERZENSPROJEKT Aber Anna, Mutter einer zehnjährigen Tochter, gibt sich nicht einfach mit ihrem ersten Kurzfilm zufrieden. Aus der Arbeit an To Meet Esther ging ihr großes Herzensprojekt hervor. Ihre Film- und Social-Media-Kampagne »Ich bin Jude« soll vor allem junge Leute ermutigen, sich zu bekennen und über ihre Erfahrungen als Juden im Alltag zu berichten.

Auf ihrem YouTube-Kanal sind bereits kleine Dokumentationen zu sehen, die sie selbst gedreht hat, eine Rubrik für Kinder soll dazu kommen, und auch To Meet Esther wird man dort ansehen können, nachdem der Film dann eine hoffentlich lange und erfolgreiche Reise durch die Filmfestivals hinter sich hat.

Ihr nächstes Projekt: ein Film über Jüdinnen und Juden in der Bundeswehr.

Unterstützung fand Anna Eret für dieses umfassende Projekt beim Berliner Verein Mitzva e.V. Der Schwerpunkt liegt hier bei jüdischen und israelischen Initiativen, »weil wir selbst jüdisch sind«, wie der Vorstandsvorsitzende Johannes Beyer sagte.
Ausgewählt werden gemeinnützige Projekte, die der Idee der Völkerverständigung und der humanitären Hilfe vor Ort dienen.

So erhält die israelische Organisation »Latet« Unterstützung, die sich um bedürftige Menschen und notleidende Schoa-Überlebende kümmert und große Zentren für Lebensmittelsammlungen gegründet hat, oder das »Carmel College«, eine gemeinsame Bildungseinrichtung für Drusen in Dalit El Carmel. Mitzva e.V. bietet Initiativen, die keinen Förderverein in Deutschland haben, die Zusammenarbeit an und fungiert als eine Art gemeinnütziger »Finanzdienstleister«.

ZEUGNISSE Die Kampagne »Ich bin Jude«, die Anna mit ihrer ganzen Energie und Leidenschaft betreibt, fällt da etwas aus dem bisher gültigen Rahmen. Doch als Anna sich an Mitzva e.V. wandte, traf sie auf offene Ohren: »Wir fanden hier das Gesamtpaket einfach gut«, sagt Johannes Beyer. »Sie setzt mit ihrer Initiative ein klares Zeichen gegen Antisemitismus und befördert demokratische Grundwerte. Das hat uns überzeugt.«

Mittel kamen aus dem Fonds von »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« sowie von der Amadeu Antonio Stiftung. Auch das Medienboard Berlin-Brandenburg will demnächst bei der Finanzierung helfen. Weitere Dokumentationen sollen dazukommen, etwa über Jüdinnen und Juden in der Bundeswehr.

So wird sich Annas Kanal Schritt für Schritt mit Zeugnissen von jungen Menschen füllen, von denen viele zum ersten Mal, wie die kleine Marianna im Film, in der Öffentlichkeit sagen: »Ich bin Jude.«

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