Porträt der Woche

Beistand bieten

Oleg Stern (40) wuchs in Lemberg auf und arbeitet heute bei Mercedes-Benz in Stuttgart. Foto: Brigitte Jähnigen

Porträt der Woche

Beistand bieten

Oleg Stern ist Familienvater und setzt sich für Gemeindemitglieder ein

von Brigitte Jähnigen  05.03.2023 08:15 Uhr

Wären wir in der Ukraine geblieben, wäre mein Leben anders verlaufen. Täglich hören wir die schrecklichen Nachrichten aus meinem Heimatland. Was noch vor einem Jahr unvorstellbar war, ist bittere Realität: Es ist Krieg. Menschen fliehen, Familien werden getrennt, ganze Städte ausradiert. Es macht mich fassungslos, dass Menschen, die mit denselben Zeichentrickfilmen, Gute-Nacht-Geschichten und Vorbildern aufgewachsen sind, ruhigen Blutes und scheinbar ohne Gewissensbisse Bomben auf Krankenhäuser abwerfen und Raketen in die Wohnhäuser schießen.

Und es fühlt sich seltsam an, dass ich in dieser Zeit hier in Deutschland in Sicherheit und Frieden weiterlebe, während meine ehemaligen Klassenkameraden und Kindheitsfreunde auf der Flucht sind oder in Schützengräben für ihre Freiheit kämpfen.

generationen Geboren wurde ich in Lemberg. Ich erinnere mich an eine schöne Kindheit. Drei Generationen lebten in einer großen Dreizimmerwohnung. Wir hatten viele Bücher. Es wurde gelacht, viel gesungen, viel gespielt. Freiheit und Vertrauen waren die Basis meiner Erziehung. Wir hatten einen großen Freundeskreis. Aufrichtige, herzliche Leute – und eine bunte Mischung: sowje­tisch, russisch, ukrainisch, jüdisch.

Unser Auto war alt. Der Plattenspieler ebenso. Wenn ich so nachdenke, dann wäre meine Familie, hätte sie immer im Westen gelebt, wahrscheinlich finanziell gut aufgestellt gewesen. Denn meine Mutter und mein Vater waren sehr gut ausgebildet. Meine Mutter war eine der ersten Frauen, die in den 70er-Jahren Informatik studiert hat. Sie arbeitete als Programmiererin in einem Werk. Mein Vater war wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsinstitut, hatte eine Doktorarbeit in Physik geschrieben. Das Geld reichte zum Leben, unsere Statussymbole waren Bücher.

Wenn alle denken, dass sie nichts ausrichten, bewegt sich auch nichts.

Papierbogen Anfang der 90er-Jahre löste sich die Sowjetunion auf, wir fanden uns plötzlich in der unabhängigen Ukraine wieder. Das Leben hatte sich von einem Tag zum nächsten vollkommen verändert. So war das Geld nichts mehr wert. Und es sah auch anders aus. Übergangweise haben wir ukrainische Rubel aus einem einfachen Papierbogen herausgeschnitten.

gemüsegarten Als Kind fand ich das lustig. Für die Erwachsenen war es kein Spaß: Gesellschaftlich hatte sich auch alles verändert. Meine Großeltern waren gerade in Rente gegangen, Gehälter wurden unregelmäßig gezahlt, Betriebe schlossen. Wir waren froh, dass wir einen kleinen Gemüsegarten hatten, denn so waren zumindest die Wintervorräte sicher.

Bei uns zu Hause wurde Russisch gesprochen, auf der Straße hingegen Ukrai­nisch. Als Fremdsprache hatte ich in der Schule Französisch gelernt. Unser Judentum definierte sich über Familiengeschichte, Humor und die Erzählungen meiner Großeltern. Ablehnung aufgrund meiner »Volkszugehörigkeit« hatte ich bis dahin selbst nicht erlebt, eher aus Erzählungen erfahren.

Juden wurden in der späten So­wjetunion zwar bewusst klein gehalten – sie durften nicht überall studieren –, und sie wurden bei Beförderungen nicht bedacht, manche Berufe waren für sie gar versperrt. Offenen Hass hatte ich aber nicht erfahren.

Umbruch Das änderte sich: Wie in Umbruchzeiten üblich, wurden Juden zunehmend Zielscheibe der Unzufriedenheit und des Nationalismus. Männer in schwarzen Hemden traten im Fernsehen auf, man sah plötzlich Schmierereien an Hausfassaden, es wurden Schimpfwörter benutzt, die zuvor tabu gewesen waren. Wir spürten die Ungewissheit, ja sogar Bedrohung. Die Zeiten waren rauer geworden.

Viele unserer Freunde und Angehörigen gingen nach Israel, Kanada und in die USA.

Viele unserer Freunde und Angehörigen gingen nach Israel, Kanada und in die USA. Nach und nach leerte sich unser Tisch, die Feiern wurden seltener. Wir waren so ziemlich die Letzten, die auswanderten, als sich die Option Deutschland auftat. Dieser Prozess hatte ein paar Jahre gedauert. Ich erfuhr erst einige Wochen vorher, dass wir weggehen würden – in ein Land, das mir fremd war. Mir wurde klar: Ich musste alles hinter mir lassen.

Ich war zwölf. Ich erinnere mich, dass ich Bonbons in die Schule mitbrachte und jedem meiner Mitschüler zum Abschied eines auf den Tisch gelegt habe. Und dann waren wir weg: In einem alten, orangefarbenen VW fuhren wir am 19. Januar 1995 los. Es schneite. Unsere erste Adresse war die Zentrale Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Karlsruhe – noch heute habe ich sie vor Augen. Am nächsten Tag ging es nach Dornstetten, einem 8000-Seelenstädtchen im Schwarzwald.

Umstellung Die Umstellung war hart. Wir kamen aus einer 800.000 Einwohner zählenden Großstadt mit Theatern, Kinos, Cafés, Kathedralen und Synagogen voller Leben, Kultur und reicher Geschichte. Und landeten im Nirgendwo, wo wir mit einer Sprache konfrontiert waren, die wir weder sprachen noch verstanden. Wir wohnten in einem Wohnheim.

Was wir damals noch nicht wussten: Wir waren die letzten »Gäste«, die dort aufgenommen worden waren, bevor es ein Jahr später schloss. Das muss man sich einmal vorstellen: In einem riesigen Speisesaal mit 20 bis 30 Tischen speisten wir allein. Und in der Waschküche haben wir neben zehn Maschinen Badminton gespielt.

Vom ersten Tag an lernte ich Deutsch. Ich kam in die Vorbereitungsklasse. Wir waren 15 Mädchen und Jungen im Alter zwischen acht und 16 Jahren. Unser Lehrer war als Deutscher aus Japan gekommen, er konnte wie ich ein wenig Französisch. Das war unsere gemeinsame Basis. Ihm habe ich viel zu verdanken. Er sorgte dafür, dass ich nicht wie alle aus der Klasse auf die Hauptschule ging, sondern aufs Progymnasium.

nachhilfe Der Anfang dort war hart. Auch Englisch war mir vollkommen fremd. Der Schulleiter setzte sich für mich ein, organisierte Nachhilfe, die von der Schule bezahlt wurde. Damals begriff ich: Wenn du dich reinhängst und das Glück hast, auf hilfsbereite Menschen zu treffen, stehen dir auch in Deutschland viele Türen offen.

Die nächste Station unserer Familie war Freudenstadt. Dort mieteten wir ein Haus – inzwischen waren auch meine Großeltern nachgekommen. Doch in Freudenstadt schienen unsere Zukunftschancen nicht rosig, also zogen wir weiter nach Stuttgart. Meine Eltern wohnten wieder im Wohnheim. Dennoch hatten wir Vertrauen, dass es der richtige Schritt war: endlich eine Großstadt.

Für mich bedeutete es einen weiteren Schulwechsel. Es war diesmal ganz anders als »auf dem Land«, ich traf dort auf eine bunte Mischung von Menschen. Ich fühlte mich in dieser Umgebung deutlich wohler und fiel mit meinem Akzent nicht weiter auf. Meine Noten verbesserten sich. Es folgten Abitur, Studium und mein Einstieg in die Arbeitswelt bei Mercedes-Benz. Großvater war sehr stolz, als ich den Vertrag und einen Werksausweis bekam.

Mit dem Umzug nach Stuttgart kam ich der jüdischen Gemeinde wieder näher.

Mit dem Umzug nach Stuttgart kam ich der jüdischen Gemeinde wieder näher. Wir lernten, Hebräisch zu lesen und Feiertage zu feiern. Ich besuchte zum ersten Mal den Gottesdienst. Nun war ich auch außerhalb der Schule öfter in der Gemeinde. Dort lernte ich Menschen kennen, die mein Schicksal teilten. Unsere Freundschaften halten bis heute.

Jahre später, ich stand bereits mitten im Berufsleben, stellte ein Freund mich beim Chanukkaball einer jungen Frau vor. Ira und ich heirateten drei Jahre später. Unser Sohn Emil ist nun zwei. Wochentags gehen wir gemeinsam zur Gemeinde an den Türen der Synagoge vorbei zum Kindergarten.

repräsentanz Der Kreis hat sich geschlossen. Vor einem Jahr wurde ich in die Repräsentanz der Gemeinde gewählt. Ich möchte daran mitwirken, dass die Gemeinde ein Ort bleibt, der allen Juden offensteht und Beistand und menschliche Wärme bietet. Der Kindergarten liegt mir besonders am Herzen.

Zudem ist uns jüdischen Kontingentflüchtlingen eine schreiende Ungerechtigkeit widerfahren, die ich korrigieren helfen möchte: Im Gegensatz zu den sogenannten Spätaussiedlern wurde unsere Arbeitsleistung in der Sowjetunion nicht anerkannt. Statt Rente beziehen die Älteren Sozialhilfe oder eine »Grundsicherung im Alter«.

So erging es meinen Großeltern. Und auch meine Eltern haben trotz jahrelanger Arbeit in diesem Land nur wenig Aussicht auf eine würdige Rente. Jetzt ist eine symbolische Einmalzahlung vorgesehen – mit vielen Hürden und Einschränkungen. Ein antisemitisches Klischee lautet: Juden haben zu viel Geld und Macht.

Ich halte dagegen: Juden in Deutschland sind arm und haben fast keine Macht. Ich weiß, dass ein Einzelner in der großen Politik nicht viel ausrichten kann. Im Russischen sagt man: Einer im Felde ist kein Krieger. Ich will es dennoch versuchen. Mit Argumenten und Beharrlichkeit. Denn eines weiß ich aus Erfahrung: Wenn alle denken, dass sie nichts ausrichten, bewegt sich auch nichts.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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