Breslau

Aus Deutschland in alle Welt

Mitten in der Altstadt von Wroclaw, des früheren Breslau, liegt die Synagoge zum Weißen Storch. In einem malerischen Innenhof mit Café und Restaurant strahlt der neoklassizistische Bau eine große Würde aus. Würde für ein einmaliges Ereignis in dieser viertgrößten Stadt Polens. Erstmals ordiniert das Potsdamer Abraham Geiger Kolleg (AGK) Rabbiner und Kantoren im Ausland. Das Institut hatte nicht nur den 140. Todestag seines Namensgebers zum Anlass genommen, diesen Ort des Schaffens des großen Gelehrten zu wählen, sondern auch den 75. Jahrestag des Angriffs Hitler-Deutschlands auf Polen.

Diesem Anlass gemäß war auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach Polen gereist. Er bezeichnete es in seiner auf Englisch gehaltenen Rede als ein wahres Wunder, dass angesichts dieser Geschehnisse heute Christen und Juden, Polen und Deutsche eine Amtseinführung für in Deutschland ausgebildete Rabbiner und Kantoren begingen. Es sei auch Ausdruck der gestärkten jüdischen Gesellschaft in beiden Ländern. Sein Bekenntnis gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeiten löste spontanen Applaus aus.

Absolventen Unter Orgelklängen waren die sieben Kandidaten mit ihren Lehrern und Mentoren in die prachtvolle Synagoge eingezogen. Nils Ederberg, Jonas Jacquelin, Sofia Falkovitch, Fabian Sborovsky, Aviv Weinberg und Alexander Zakharenko standen in der ersten Reihe und stimmten gemeinsam das »Adon Olam« an.

Sie sind die vier Rabbiner und drei Kantoren, die in einer feierlichen Zeremonie ihre Urkunden verliehen bekamen. Der Präsident des Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner Walter Jacob, gab allen einen Segen mit, legte ihnen die Hand auf die Schulter und hatte für jeden noch sehr persönliche Worte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Für die Öffentlichkeit bestimmt waren jedoch die mahnenden, aber auch zuversichtlichen Worte der zahlreichen Redner und Festgäste. AGK-Präsident Walter Jacob erinnerte sich an die ersten Septembertage 1939. Als kleiner Junge habe er mit seinen Eltern zusammengesessen und den Radioberichten über den Überfall Deutschlands auf Polen gelauscht. Sie hatten gerade das rettende England erreicht. »Wir dachten darüber nach, was wohl mit unseren Freunden und Verwandten geschehen würde«, sagte Jacob, und seine Stimme erstickte unter den aufsteigenenden Tränen.

zentralrat Reinhard Schramm, Direktoriumsmitglied, überbrachte die Grüße des Zentralrats. »Der Zentralrat der Juden in Deutschland tut das Seine, um die Arbeit des Abraham Geiger Kollegs zu ermöglichen«, wandte sich Schramm an die Absolventen mit den herzlichsten Glückwünschen. Aus Verneigung vor dem Gastgeber sprach Schramm Polnisch.

Er bedankte sich aber auch beim deutschen Bundesinnenministerium, der Kultusministerkonferenz der 16 Bundesländer, dem Bundesbildungsministerium und dem Land Brandenburg. »Erst das Zusammenwirken auf vielen Ebenen macht die Rabbinerausbildung in Deutschland möglich.«

Berührende Worte sprach auch die Gesandte der Botschaft des Staates Israel in Polen, Ruth Cohen-Dar. Die Ordination sei ein Zeichen von Sharsheret Ha’dorot, der Fortführung der Generationen. »Ein ergreifender Moment, insbesondere wenn wir uns vor Augen führen, dass es vor 70 Jahren so aussah, als sei das Ende der 1000-jährigen Geschichte der europäischen Juden gekommen.«

Religiöse Führer Zuversichtlich stimmten die mitreißenden Worte des Präsidenten der World Union for Progressive Judaism, Daniel Hillel Freelander. »Heute begrüßen wir vier neue Rabbiner und drei Kantoren in unser weltweiten Gemeinschaft. Sie verkörpern das Engagement, mit dem wir ein jüdisches Leben von besonderer Strahlkraft in Europa zu verwirklichen suchen.« Sie verkörperten auch die Sehnsucht nach einer kulturellen, geistlichen und geistigen Erneuerung innerhalb des Judentums. »Wir brauchen Sie«, rief er den sieben Kandidaten zu. »Wir brauchen Sie, damit Sie uns nach vorne bringen. Wir brauchen Sie als beseelte religiöse Führer, die die Fähigkeiten und die Energie mitbringen, diese Vision Realität werden zu lassen.«

Damit dies geschehen kann, stattet das Ernst Ludwig Ehrlich Studien Studienwerk (ELES) viele Studierende mit Stipendien aus. Seine Schirmherrin Charlotte Knobloch betonte dann auch: »Dass in Deutschland wieder orthodoxe und liberale Rabbiner ausgebildet werden, bezeugt unser Vertrauen auf eine gute Zukunft«. Wiewohl sie angesichts des hasserfüllten Antisemitismus in den vergangenen Wochen ihre Zuversicht bedroht sah. Knobloch lenkte jedoch ein: »Unbeirrbar glaube ich an das Gelingen jüdischen Lebens in Deutschland und Europa.« Sie appellierte, den Anfängen zu wehren. Den Absolventen wünschte sie, dass es ihnen gelingen möge, »den Menschen Halt und Glauben zu vermitteln und die jüdische Religion zu bewahren und weiterzugeben«.

Gemeinsame Geschichte Keiner der Redner – unter ihnen auch der Präsident der jüdischen Gemeinschaft in Polen, Piotr Kadlcik, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Wroclaw, Aleksander Gleichgewicht, sowie der Staatssekretär des Ministeriums für Verwaltung und Digitalisierung, Stanislaw Huskowski – konnte die historischen Ereignisse um die ersten Septembertage vor 75 Jahren außer Acht lassen. Alle betonten aber auch die Gemeinsamkeiten, die sich nicht zuletzt in dieser einzigartigen Ordination im Herzen Wroclaws zeigten. Verbindungen, die für viele Festgäste und Angehörige auch ganz persönliche waren.

Gäste Mit Piotr Kadlcik und Anna Chipcz waren neben Gemeindevertretern aus Kattowitz und Posen die höchsten Repräsentanten der etablierten jüdischen Gemeinschaft in die Synagoge zum Weißen Storch gekommen. Die drei Reformrabbiner Polens sprachen gemeinsam das Gebet für internationale Verständigung und Frieden. Aus dem Ausland waren nicht nur Verwandte und Freunde der Absolventen angereist, sondern auch Gäste aus anderen jüdischen Gemeinden, etwa aus Rumänien, Norwegen und der Schweiz.

Eine Vielzahl der Redner und Gäste hat familiäre Bezüge zu Breslau, wie Rabbiner Walter Jacob und Rabbiner Henry G. Brandt. Und auch die Mutter von Außenminister Steinmeier stammt aus Breslau.

Berufliche Zukunft Die ordinierten Rabbiner und Kantoren, »Kollegen«, wie sie der Sprecher der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Henry G. Brandt, nannte, kommen aus Paraguay, Frankreich, Russland und Deutschland, und in alle Herren Länder werden sie nun auch gehen. Nur Alexander Zakharenko, der als Kantor die Thüringische Landesgemeinde in Erfurt verstärken wird, und Nils Ederberg, der mit seiner Familie fest in Berlin verankert ist, werden in Deutschland bleiben. Dies gilt möglicherweise auch für Kantorin Aviv Weinberg. Sie ist im Gespräch für eine Anstellung in Deutschland.

Rabbiner Jonas Jacquelin geht zurück in seine Heimatstadt Paris. Kantorin Sofia Falkovitch wird die erste Frau im Kantorenamt in Luxemburg. Fabian Sborovsky hat eine halbe Stelle in Rom erhalten und wird zu den Feiertagen auch in Manchester amtieren. Rabbinerin Julia Margolis, die von ihrer Mutter, der Oberrabbinerin in St. Petersburg, zur Ordination begleitet wurde, wird in Südafrika amtieren. An diesem Dienstag sind sie erst einmal erleichtert und glücklich und schließen ihre Freunde und Verwandten im malerischen Hof an der Pawla Wlodkowica in die Arme.

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