Frankfurt/Main

Auf koscher gemacht

Geschlossen: der ehemalige Laden der Firma »Aviv« im Frankfurter Ostend Foto: Rafael Herlich

Nachdem die Angeklagten gestanden hatten, bewusst unkoscheres Fleisch verkauft zu haben, sorgte der Prozess gegen die ehemaligen Geschäftsführer der Firma »A & L Aviv GmbH« am Landgericht Frankfurt am vierten Tag für eine weitere böse Überraschung: »Herr H. hat bei mir Därme zur Wurstherstellung gekauft«, sagte der Frankfurter Niederlassungsleiter der Firma Enders, die mit Fleischerei- und Gastronomiebedarf handelt.

Und er bestätigte auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Jörn Immerschmitt, dass sein Kunde unter anderem auch Därme gekauft habe, für deren Elastizität die enthaltene Schweinegelatine sorge.

Preis Aviv wurde bei der Firma Enders offiziell als Kunde geführt, den Verkäufer irritierte der Warenbezug jedoch nicht: »Ich habe nicht gewusst, dass Aviv eine rein jüdische Metzgerei ist.« Auf weitere Nachfrage erklärte der Fachmann, dass er auch zertifiziert koschere Därme hätte bestellen können, aber die hätte der Kunde »nicht gewollt«. Die koscheren Varianten seien wegen des »Überwachungsaufwands durch spezialisiertes Personal« etwa 50 Prozent teurer als konventionelle Ware.

»Bei den meisten, die koschere Wurst herstellen wollen, scheitert das dann am Preis«, berichtete der Großhändler aus Erfahrung. Er habe bisher mehrere Anfragen nach koscheren Därmen gehabt und verschiedene potenzielle Kunden auch beraten. Bisher sei aber keine einzige Anfrage in eine Bestellung gemündet.

Neben den Erklärungen zweier weiterer Fleischhändler, der Angeklagte habe bei ihnen oft konventionelles Fleisch »für seinen Partyservice und Privatkunden« gekauft, ließ eine weitere Aussage aufhorchen: So sagte ein Metzgermeister aus, Herr H. sei bei ihm ein guter Kunde für »gepökelte Putenbrust« gewesen. Pikant: »Durch die Maschinen läuft alles durch, auch Schwein, ist ja klar«, sagte der Zeuge auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters.

Beschädigt Damit dürfte der Grad der »religiösen Beschädigung«, mit deren Ermessung das Gericht bislang vor allem am dritten Verhandlungstag beschäftigt war, gestiegen sein. Etliche Stammkunden waren gebeten worden, zu schildern, wie viel und welches Fleisch sie von dem Geschäft bezogen und bei wem sie die Ware meistens bestellt hatten. Ein Zeuge sagte dabei aus, das nachträgliche Wissen, eventuell unkoscheres Fleisch gegessen zu haben, plage ihn »wie eine Sünde«: »Das verletzt unsere Gefühle.«

Auf seiner Facebook-Seite postete der Vorsitzende der Initiative Honestly Concerned, Sacha Stawski, den aktuellen Ermittlungsstand und löste damit eine Welle des Entsetzens aus. Im Internet wurde dieselbe Frage gestellt, die eine der Zeuginnen vor Gericht formulierte: Wie viele andere Betroffene mache sie sich Gedanken darüber, wie sie denn nun mit ihrer Küchenausstattung verfahren solle.

Schließlich könne diese, nachdem darin vermutlich auch unkoschere Lebensmittel verarbeitet wurden, rituell nicht mehr rein sein: »Da habe ich jetzt ein Problem.« Deshalb hoffe sie, dass der Rabbiner »uns bald etwas dazu sagen wird«.

Vertrauen Ohnehin erwarten viele Gemeindemitglieder vom Oberaufseher der Kaschrut bei Aviv, Rabbiner Menachem Halevi Klein, eine öffentliche Stellungnahme. Klein hatte den Richter indes um Dispens gebeten, weil er ja auch der Seelsorger der beiden Angeklagten sei und nicht trennen könne, was er offiziell wisse und was die beiden ihm im Vertrauen mitgeteilt hätten.

Dabei spielte der Umstand, dass die Metzgerei von Aviv unter der Aufsicht des Frankfurter Rabbinats stand, wohl eine entscheidende Rolle für die Käufer: »Wir haben dem Rabbiner vertraut. Er ist für uns der oberste Gutachter dafür, dass das Fleisch koscher ist«, erklärte ein weiterer Zeuge, dessen Haushalt streng nach der Kaschrut geführt wird. Eine andere langjährige Kundin von Aviv sagte aus, sie sei bis zum Teilgeständnis der beiden Angeklagten davon ausgegangen, »dass mein Fleisch koscher war«.

Insgesamt zeigte sich, dass die Kunden ihrem Fleischhändler bis zuletzt vertraut hatten; kaum einem der Befragten war die Farbe oder Beschaffenheit des Fleisches jemals ungewöhnlich oder verändert vorgekommen, sodass er Verdacht geschöpft hätte, dass da irgendetwas nicht ganz koscher sein könne.

Auch der Küchenleiter des Frankfurter Alten- und Pflegeheims der Henry und Emma Budge-Stiftung, das für seine jüdischen Bewohner eine separate koschere Küche mit extra Kühlraum unterhält und einen eigenem Maschgiach beschäftigt, hatte nie Zweifel an der Herkunft und Qualität des Fleisches gehegt, wie er vor Gericht erklärte. »Hätte ich wissentlich unkoscheres Fleisch aufgetischt, hätte mich das meinen Job gekostet«, sagte er.

abgehört Dass das Budge-Heim unkoscheres Fleisch erhalten hat, ist indes sehr wahrscheinlich. Dies wurde anhand von mitgeschnittenen Telefongesprächen deutlich, die im Laufe der Verhandlung öffentlich vorgespielt wurden: »Wir müssen morgen früh ein paar Sachen machen und verschwinden lassen«, bat der Angeklagte H. in einem Telefonat einen Metzgerskollegen, der regelmäßig bei Aviv aushalf, um Unterstützung.

Denn: »Das richtige Fleischprogramm können wir erst am Donnerstag bekommen, aber Nelly Sachs braucht unbedingt morgen was und die Budge-Stiftung auch, und die Mensa braucht 50 Kilogramm Hackfleisch und so was.« Demnach wurden also nicht nur die Altersheime in Düsseldorf und Frankfurt wissentlich mit unkoscherem Fleisch beliefert, sondern auch die Lichtigfeld-Schule in Frankfurt.

Die beiden 56 und 48 Jahre alten Angeklagten sollen ihren Kunden in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt etwa 40.000 Kilogramm konventionelles Fleisch unter irreführender Kennzeichnung als »glatt koscher« verkauft haben. Den dabei entstandenen Schaden beziffert die Staatsanwaltschaft auf rund 557.000 Euro.

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