Porträt der Woche

»Auch wir waren Fremde«

Führte drei Boutiquen und eine Videothek: Ljuba Landsmann Foto: Stephan Pramme

Porträt der Woche

»Auch wir waren Fremde«

Ljuba Landsmann staunt darüber, wie aktuell die Tora das Thema Migration behandelt

von Igor Mitchnik  14.11.2011 18:03 Uhr

Als ich 1974 von Israel nach Berlin kam, dachte ich: Was ist denn hier los? Wie sehen die Leute in der U-Bahn aus? Ich war aus Israel viel Temperament gewohnt, und hier blickte ich in tote Gesichter. Ich verstand nicht, was los war. Doch die Zeiten haben sich geändert. Fährt man heute mit der U-Bahn, sehen die Menschen ganz anders aus: Es sind viele junge Leute unterwegs, und alle wirken viel lebendiger.

Mein Name ist Ljuba Landsmann. Ich wurde in Riga geboren, in Lettland, das damals zur Sowjetunion gehörte. Ich bin jetzt 64 Jahre alt. In Riga habe ich eine Ausbildung zur Elektromechanikerin gemacht. Als ich 25 Jahre alt war, wanderte ich gemeinsam mit meinem Mann nach Israel aus. Das war 1972.

Ich lebte dort das erste halbe Jahr im Kibbuz En Harod, das ist im Norden. Wir haben Hebräisch gelernt, vier Stunden am Tag, mit anderen Einwanderern aus der ganzen Welt. Bedauerlicherweise habe ich die Sprache aber inzwischen wieder vergessen. Die anderen vier Stunden arbeiteten wir in der Küche oder ernteten Oliven. Leider war ich ein bisschen mollig, sodass ich nicht auf die Ölbäume klettern konnte. Das machten die jüngeren und schlankeren Leute.

Jom-Kippur-Krieg Nach dem halben Jahr im Kibbuz haben wir eine Wohnung in Or Jehuda bekommen, und ich fand eine Arbeitsstelle beim Luftfahrttechnologieunternehmen BEDEK. Doch plötzlich fing der Jom-Kippur-Krieg an, und alle jungen Leute mussten zur Armee. Auch unsere kleine Abteilung wurde eingezogen. Wir haben elektronische Geräte geprüft und kontrolliert. Ich tat das, obwohl man mich als Technikerin in Israel zu dieser Zeit noch gar nicht anerkannt hatte. Aber ich war die Einzige im Kibbuz, die etwas von Technik verstand.

Wir haben sehr viel gearbeitet in dieser schweren Zeit. Überstunden wurden nicht bezahlt. Manchmal saßen wir bis Mitternacht oder länger in der Firma. Trotz der harten Tage und Nächte während des Krieges fühlte ich mich sehr wohl in Israel und wollte auch bleiben, aber mein Mann konnte leider nicht. Er war als Soldat auf dem Sinai stationiert und erlitt dort einen sehr schweren Sonnenstich. Anscheinend hatte er gedacht, der Strand sei wie in Lettland und war stundenlang in der prallen Sonne geblieben. So mussten wir Israel nach nur zwei Jahren schon wieder verlassen und gingen nach Deutschland. Dort wohnte bereits meine elf Jahre ältere Schwester Ella Jucha. Sie musste sich damals im Berliner Herzzentrum einer dreifachen Bypass-Operation unterziehen, die sehr gut verlief. Vor der deutschen Medizin haben wir seitdem großen Respekt.

Schon Ende 1973 war meine Schwester in die Berliner jüdische Gemeinde eingetreten und wurde dort aktiv, ab 1988 dann auch im Seniorenklub. Seit 2001 begleite ich sie regelmäßig dorthin. Wir sind da immer sehr willkommen. Zuerst waren wir Mitglieder im deutschsprachigen, dann im russischsprachigen Klub, und später besuchten wir sogar den Veteranenklub. Wir sind mit den Menschen in der Gemeinde sehr vertraut.

Telefunken Nach unserer Ankunft in Deutschland blieben mein Mann und ich etwa eineinhalb Jahre im Aufnahmelager in Berlin-Marienfelde. Ich bekam relativ schnell einen Job bei Telefunken, die Situation auf dem Arbeitsmarkt war damals besser. Ich wurde als Fehlerbestimmerin für Polizeifunkgeräte eingestellt. Zwar verdiente ich nicht viel, aber ich war eigentlich zufrieden. Doch dann fingen meine allergrößten Schwierigkeiten an.

Ich hatte ein Problem mit der hiesigen Mentalität. Kennen Sie so etwas wie »Frühmorgenfrustabbau«? Haben Sie davon schon mal gehört? Darüber habe ich am meisten gestaunt und mich am meisten aufgeregt. Lenin, den wir in der Sowjetunion ausführlich studieren mussten, hat manchmal gar nicht so dumme Sachen gesagt, zum Beispiel: »Wenn du das Volk kennenlernen willst, geh hin. Dort siehst du den ungeschminkten Menschen, gänzlich unverstellt. Dann verstehst du das Volk.«

Jeden Morgen kamen die Leute und bauten in der Firma ihren Frust ab. Ich fühlte mich wie in einer psychiatrischen Klinik. Da hieß es ständig »Kanake« hier, »Kanake« da, und sie machten jemanden fertig, weil er angeblich stinken würde. Bei Telefunken war dieser Umgang miteinander noch nicht so ausgeprägt. Aber bei bei dem Elektronik-Unternehmen in Kreuzberg, bei dem ich später arbeitete, war es richtig schlimm. Ich dachte, vielleicht hat einer von ihnen in der Kneipe schlechte Erfahrungen gemacht, oder ihm sei etwas passiert. Ich versuchte, mich damit nicht weiter zu belasten. Aber das Schauspiel wiederholte sich jeden Morgen. Ich hatte damals ziemlich große Angst.

Diese Psychosen wirkten sehr beängstigend. Daran können Menschen zugrunde gehen. Oft fing einer an mit seinem Frustabbau, und andere stiegen darauf ein. Das ging bis zum Mittag. Danach entspannte es sich.

Dieser Arbeitsplatz war nicht mein erster. Ich hatte in der Sowjetunion seit meinem 16. Lebensjahr gearbeitet und dann auch in Israel. Aber von so etwas wie Frühmorgenfrustabbau hatte ich noch nie gehört. Jahre später hörte ich den Begriff Mobbing zum ersten Mal. Ich weiß, dass Kinder das manchmal untereinander tun. Sie können grausam sein und lästern. Aber meine Arbeitskollegen waren doch Erwachsene. Weil ich das nicht mehr ertrug, habe ich mich selbstständig gemacht. Zwischenzeitlich hatte ich drei Boutiquen und führte unter anderem eine Videothek – ohne Erfahrung und in großer Konkurrenz.

Überzeugungskraft Hilfe fand ich bei Menschen wie Rabbiner Yitzhak Ehrenberg. Er hat mich seelisch unterstützt, was ich ihm mein Leben lang danken werde. Er war für mich da, er hat seine weisen Worte sowie seine starke, innere Überzeugungskraft mit mir geteilt und mir und meiner Schwester das Gefühl vermittelt, in der Gemeinde willkommen zu sein. Ich finde, es ist egal, ob jemand liberal oder orthodox ist. Der Mensch hinter der Religion muss überzeugen. Rabbiner Ehrenberg war für mich da, als es mir schlecht ging. Dafür danke ich ihm.

Vor einigen Jahren fing ich an, die Tora zu lesen. Ich war sehr erstaunt. Rabbiner Ehrenberg erklärte mir zwar, dass man als Mensch nur etwa fünf Prozent verstehen kann – alles andere verstehe nur Gott. Ich wollte es trotzdem lesen und war über die hohe Moral und Aktualität verblüfft: »Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst, denn ihr wart auch Fremde in Ägypten.« Weil die Juden gelitten haben, sollen auch andere nicht leiden.

Heute, im Jahr 2011, ist Migration eines der aktuellsten Probleme der Welt. Mit Liebe kann man meiner Meinung nach all diese Probleme lösen. Versucht man, sie mit Hass zu lösen, kommt so etwas heraus wie das Buch von Thilo Sarrazin. Viele Juden sind beruhigt, dass man dieses Mal über Türken und nicht über Juden spricht. Ich denke mir manchmal, wenn Kreuzberg jüdisch geprägt wäre, mitsamt den religiösen Merkmalen – Hüte, Schläfenlocken, Bärte und rasierte Köpfe – Gott, was wäre dann mit diesen Juden in Kreuzberg?!

Ich wünsche mir, dass man sich das Zitat aus der Tora überall auf der Welt zu Herzen nimmt, auch in unserer Gemeinde. Das würde das Klima zwischen den Menschen verbessern, und alle würden sich untereinander um mehr Freundlichkeit, Einfühlungsvermögen und um gutes Benehmen bemühen.

Aufgezeichnet von Igor Mitchnik

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