Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke mit seinem Hund Ari am Strand von Odessa vor einem Bunker-Hinweisschild

Ich bin als jüdischer Mann lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Deutschland. In der Bundesrepublik wird der Antisemitismus zunehmend gesellschaftlicher Konsens. Die Unterscheidung zwischen Juden und einer israelischen Regierung scheint eine intellektuelle Höchstleistung geworden zu sein. Wenn man sich wacker auf Juden konzentriert, hat man schließlich einen Schuldigen, den man benennen kann, also muss man die Mitspieler in diesem wahnsinnigen, widerlichen Krieg gar nicht mehr benennen.

Hamas? Egal. Eine Grenze von Gaza zu Ägypten? Egal. Gesteuerte Medienkampagnen über Katar? Egal. Verifizierung von Quellen? Egal. Eine bizarre Mischung aus rechts und links außen sowie radikalem Islam beherrscht den sogenannten Meinungskorridor. Und ähnlich wie bei der AfD-Taktik verschiebt er sich immer mehr in Richtung Mitte: »Das wird man doch noch sagen dürfen.« Und: »Wo bleibt denn hier die Meinungsfreiheit?« Automatisierte argumentative Unantastbarkeit.

Verschlagwortung, moralische Überlegenheit und ein klares Feindbild

Das Fürchterlichste, was in Diskussionen passieren kann, ist die Aufforderung ans Gegenüber zur Differenzierung. Gewünscht sind Verschlagwortung, moralische Überlegenheit und ein klares Feindbild. Alles Indizien für Totalitarismus.

Die vergangenen dreieinhalb Jahre habe ich den größten Teil meiner Zeit in der Ukraine verbracht. Jüdisches Leben ist dort Alltag. In jeder Runde stellt sich irgendwann heraus, dass jemand jüdisch ist – für mich eine völlig neue Erfahrung. Sechs Millionen ermordete Juden in Deutschland bedeuten ja auch, dass man jüdische Menschen quasi mit der Lupe suchen muss. In Deutschland hat mich ein jüdischer Freund darauf hingewiesen, den Davidstern bloß nicht öffentlich zu tragen – in der Ukraine löst das Erzählen dieser Geschichte Entsetzen aus.

Dort findet man übrigens auch vor keiner einzigen jüdischen Einrichtung Polizeischutz. Allein dieser Zustand, in Deutschland jahrzehntelang hingenommen, ist die Manifestation des Scheiterns von Staat, Gesellschaft und Netzwerken, jüdisches Leben als einen selbstverständlichen Teil von sich zu sehen. Niemand hat sich je über diesen Zustand ereifert. Es war, es ist und es wird wahrscheinlich auch immer so bleiben: normal.

In jeder Runde stellt sich irgendwann heraus, dass jemand jüdisch ist.

Jetzt wird der Antisemitismus ins­trumentalisiert. Die liberale Mitte mit ihren Ressentiments gegenüber Muslimen schiebt diesen den Schwarzen Peter zu – entlastend für jeden Deutschen, dass man selbst ja nichts damit zu tun habe. Lieber diskutiert man Abschiebungen und Verschärfungen des Asylrechts (wo mittlerweile nur noch wenig Luft nach oben ist), um pauschal alle Muslime für den radikalen Islam in Verantwortung zu nehmen. Dass jahrzehntelang Imame in Moscheen zur Radikalisierung beigetragen haben, dass diese Imame in der Regel von Erdogans Gnaden nach Deutschland abgeordnet werden und entsprechend indoktriniert sind – zu differenziert.

Ein ganzes Antisemitismuskaleidoskop

Links außen bedient den Antisemitismus über den Israel-Gaza-Krieg – und lebt das Narrativ, das in den 70er-Jahren in der Zeit der RAF entstanden ist. Zuerst war Israel der eine jüdische Staat, der sein muss. Das kippte, als die PLO begann, RAF-Terroristen zu unterstützen. Israel war nun gleich USA, also imperialistisch. Aber es ist nicht nur eine ideologische Gehirnwäsche. Die aktuelle Generation, die Hamas-Fahnen auf Demos trägt und toleriert, trägt ein ganzes Antisemitismuskaleidoskop in sich.

Es sind deutsche Biografien: Großeltern, die ihre Traumatisierung an die Eltern weitergegeben haben, und so auch an deren Kinder. Das Schweigen der Großeltern über ihre Zeit – schlimmstenfalls wegen Täterschaft während des Naziregimes – trägt heute Früchte. In den meisten deutschen Familien hat es keinerlei Aufarbeitung gegeben. Die fand in der Neuzeit auf einem administrativen, politischen Level statt – selbst da ist sie gründlich misslungen: siehe Hans Filbinger, ein Nazi, der Ministerpräsident wurde. Die sogenannten schlimmen Jahre wurden verhandelt über den Onkel, der in Stalingrad gefallen ist, und den bösen Russen, der die Schwester vergewaltigt hat. Der jüdische Nachbar, von dessen Porzellan die Familie heute noch isst, war hingegen kein Thema.

Der jüdische Nachbar, von dessen Porzellan die Familie heute noch isst, war hier kein Thema.

Die dritte Gruppe im Spiel hat durch die AfD den entsprechenden Aufwind erhalten. Das Mantra der AfD, für jüdisches Leben einzustehen, löst sich allein über die Vokabel »Schuldkult« auf. »Es muss ja irgendwann mal gut sein.« Das greift in die deutschen Biografien, egal, ob sie von der DDR oder von Westdeutschland geprägt sind. Die ehemaligen DDR-Bürger waren ja in der Regel auch keine Nazis, qua Staatsdoktrin. Und die 40 Prozent, die in den östlichen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt jetzt AfD wählen würden, sehen sich als die größeren Opfer, als es Juden jemals sein können.

All die benannten Gruppen fransen zunehmend in die Mitte der Gesellschaft aus, und die Narrative vom Weltjudentum, dem unfassbaren Reichtum, den jeder jüdische Mensch auf seinem Konto versammelt, die mediale Übermacht, die Juden in der Welt haben – all das wird kraftvoll geprägt von dem Gedanken »Irgendwie haben wir es ja schon immer geahnt«. Die Entlastung über Israels Angriffe auf Gaza, den bösen Juden identifizieren zu können, und zwar pauschal, hat gerade in Deutschland offensichtlich etwas unglaublich Befreiendes. Da bin ich doch lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Deutschland.

Der Autor war früher Lifetsyle-Journalist und begann 2015, Geflüchtete zu unterstützen. Seit 2022 hilft er Menschen bei der Evakuierung aus der Ukraine.

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025

Jahrestag

»So betäubend wie damals«

Am Mahnmal in Fürstenfeldbruck wurde an die Opfer des Olympia-Attentats von 1972 erinnert

von Luis Gruhler  13.09.2025

Feiertage

Tradition im Paket

Das Familienreferat des Zentralrats der Juden verschickt die neuen Mischpacha-Boxen mit allerhand Wissenswertem rund um Rosch Haschana und Sukkot

von Helmut Kuhn  12.09.2025

Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Die Filmemacherin Shoshana Simons über ihre Arbeit, das Schtetl und die Jüdische Kunstschule

von Pascal Beck  11.09.2025

München

Ein Fundament der Gemeinde

Die Restaurierung der Synagoge an der Reichenbachstraße ist abgeschlossen. In den Erinnerungen der Mitglieder hat das Haus einen besonderen Platz

von Luis Gruhler  11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigte sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Dialog

Brücken statt Brüche

Eine neue große Tagung der Denkfabrik Schalom Aleikum widmet sich der digitalen Kommunikation in Krisenzeiten

 11.09.2025

Dialog

Freunde wie Berge

Juden und Kurden verbindet eine jahrtausendealte Freundschaft. Um ein Zeichen der Gemeinsamkeit zu senden und sich des gegenseitigen Rückhalts zu versichern, kamen sie nun auf Einladung der WerteInitiative in Berlin zusammen

von Katrin Richter  10.09.2025