Vor ihrer Israelreise haben Heba (17) und Narges (18) ein mulmiges Gefühl im Bauch. Heba stammt ursprünglich aus Syrien und ist vor drei Jahren mit ihrer Familie nach Berlin geflüchtet. Narges kommt aus Afghanistan und floh vor vier Jahren mit ihren Eltern vor den Taliban. Beide sind mittlerweile Schülerinnen am »Campus Rütli« im Berliner Stadtteil Neukölln. Mit Israel verbinden sie hauptsächlich Krieg, Gewalt und Terror.
Neugierde Gemeinsam mit 13 anderen Schülerinnen und Schülern haben sie 2019 jedoch an einem Schulprojekt zum Thema Antisemitismus und zur Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts teilgenommen, an dessen Ende eine Studienfahrt nach Israel und in die palästinensischen Gebiete stehen sollte. Und bei aller Neugierde vermischte sich kurz vor der Fahrt die Vorfreude auch immer wieder mit etwas Furcht und Skepsis.
Wie sich diese Reise gestaltete, wurde nun von Mehmet Can, Jamina Diel und Mathis Eckelmann in einer Graphic Novel mit dem Titel Mehr als zwei Seiten verarbeitet. Der 65 Seiten umfassende Comic beginnt mit den Vorbereitungen für die Reise in Berlin und endet mit der Rückkehr der Klasse nach Deutschland. Er zeigt die Schülerin Heba, die um ihr Visum nach Israel bangt, und wie die israelische Botschaft in Berlin am Sonntag extra ihre Pforten öffnet, damit sie ihr Visum noch rechtzeitig abholen und am nächsten Morgen nach Israel fliegen kann.
SPRECHBLASEN Er erzählt von der Besichtigung klassischer Sehenswürdigkeiten wie der Altstadt von Jerusalem, vom Besuch des Strandes von Tel Aviv und der Stadt Bethlehem, wo es »genau das Gleiche zu essen gibt wie zu Hause auf der Sonnenallee«.
Die israelische Botschaft öffnete extra am Sonntag, sodass die Schülerin ihr Visum rechtzeitig abholen konnte.
Er schildert aber auch ernste Begegnungen wie den Besuch der Gruppe beim Verein »Parents Circle«, einem Zusammenschluss palästinensischer und israelischer Eltern, die im Zuge des gewaltsamen Konflikts ein Kind verloren haben und sich heute um einen friedlichen Ausgleich zwischen den beiden Völkern bemühen.
Mehmet Can (39), Geschichtslehrer am Campus Rütli, berichtet von den Schwierigkeiten, die ihm beim Schreiben des Comics begegneten: »Das Erzählen von den vielfältigen Eindrücken und Erfahrungen in wenigen Bildern und Sprechblasen war anspruchsvoller, als anfangs gedacht«, sagt er. »Wie können wir komplexe Sachverhalte für einen Comic so simplifizieren, dass sie für die jugendlichen Leserinnen und Leser greifbar werden?«, war eine der Fragen, die ihn beschäftigten.
Auch für Koautorin Jamina Diehl (29) entpuppte sich die Erstellung des Comics als zeitaufwendiger als vermutet. Teilweise hätten sie stundenlang über einzelne Sprechblasen diskutiert, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden waren, erzählt sie lachend. »Neben der inhaltlichen Vermittlung soll der Comic ja auch noch unterhalten und Spaß machen.«
GEDENKSTÄTTE Dass sich die Mühe gelohnt hat, zeigt sich an vielen Stellen des Comics. Die Graphic Novel zeichnet ein sehr differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft, so zum Beispiel beim Treffen in einer israelischen Schule, wo die Neuköllner Jugendlichen erstaunt feststellen, dass auch viele jüdische Jugendliche Vorfahren in arabischen Ländern haben.
Oder beim Besuch im arabischen Dorf En Rafa, wo die jugendlichen Bewohner darüber diskutieren, ob sie sich eher als arabische Israelis oder als israelische Araber verstehen.
Auch viele israelische Jugendliche haben Vorfahren in arabischen Ländern.
Sehr berührend liest sich auch die Schilderung der Führung der Gruppe durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wo Museumsguide »Jo« von seinen Nachbarn erzählt, die in ihrem Keller unzählige Lebensmittelkonserven lagern. Nach dem jahrelangen Hungern im Konzentrationslager brauchen sie Vorräte, um sich wohl und sicher zu fühlen.
BOTSCHAFTER Neben den schönen Texten sind die herausragenden Zeichnungen von Mathis Eckelmann (38), Student für visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, ein weiterer Grund, warum diese Graphic Novel funktioniert. Mit viel Liebe zum kleinen Detail und Sinn für Humor (so, wenn er den israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff unvermittelt mit einem Micky-Maus-Heft am Strand von Tel Aviv auftauchen lässt) trägt er maßgeblich zur Qualität des Bandes bei.
Dem Comic Mehr als zwei Seiten gelingt es, viele unterschiedliche Themenfelder anzureißen. In sogenannten Infoboxen erhält der Leser ausgewogen formulierte Hintergrundinformationen, die für ein tieferes Verständnis auch schwieriger Sachfragen hilfreich sind. Zwischen den einzelnen Kapiteln bietet der Comic außerdem Ideen für Arbeitsaufgaben im Unterricht an.