Frankfurt/Main

»Allen historischen Katastrophen zum Trotz«

»Wir waren zwar nicht dabei, als die Synagogen brannten, wohl aber brennen diese Bilder immer in uns.« Das sagte Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden, bei einer Gedenkstunde der Stadt Frankfurt am Vorabend des Jahrestages der Pogrome vom 9. November 1938. »Die Reichspogromnacht war weder Anfang noch Höhepunkt der Judenverfolgung in der Nazizeit. Sie war aber eine Explosion von Enthemmung«, so Graumann weiter. Die Erinnerung an die Geschehnisse bleibe Aufgabe und Auftrag.

In der Gedenkstunde in der Frankfurter Paulskirche am Donnerstag verwies Graumann auf das sich entwickelnde jüdische Leben: »Vor knapp einem dreiviertel Jahrhundert brannten die Synagogen im Land. Heute bauen wir, auf der Asche und den Ruinen von damals, gemeinsam entschlossen ganz neues jüdisches Leben hier auf. Wer hätte sich das jemals träumen lassen?«

Antisemitismus Doch gebe es immer wieder Schläge und Rückschläge, wie den brutalen antisemitischen Überfall auf Rabbiner Daniel Alter und dessen Tochter Ende August in Berlin. »Vor 74 Jahren wurden Juden hier, nur weil sie Juden waren, offen misshandelt und gepeinigt. Und nun wurde hier wieder ein Jude, nur weil er als Jude klar erkennbar war, auf offener Straße geschlagen.« Die Judenfeindschaft bleibe immer und ausnahmslos Menschenfeindlichkeit pur und absolut unentschuldbar, sagte er.

Graumann kritisierte auch, dass die Beschneidungsdebatte von hässlichen Nebengeräuschen, schroffen Belehrungen, Bevormundungen und rüden Respektlosigkeiten bestimmt sei.
Doch könne und solle nicht generell und prinzipiell jüdisches Leben in Deutschland in Zweifel gezogen werden: »Jüdisches Leben hier ist sicher. Und bleibt sicher. Und muss natürlich auch gesichert werden. Das ist eine Aufgabe für die Behörden hier und für die gesamte Gesellschaft.« Ein Judentum in Hinterzimmern werde es nicht geben, unterstrich der Zentralratspräsident.

Perspektive Vielmehr werde ein neues Judentum in Deutschland aufgebaut, mit frischer und positiver Perspektive. Es gelte, »gerade und ausgerechnet hier wiederum eine ganz neue jüdische Gemeinschaft gemeinsam aufzubauen, allen historischen Katastrophen, allen aktuellen Verwunderungen und Verwundungen ausdrücklich zum Trotz«.

Es dürfe keinen Platz für Resignation, Frustration, für Bitterkeit und für Selbstaufgabe geben, betonte Graumann. »Meine Konsequenz lautet: Ganz im Gegenteil sogar. Jetzt erst recht! Wir träumen nicht, wir trauen uns. Und wir trauen uns noch so viel zu. Aber wir kämpfen auch darum, dass unsere Träume sich erfüllen können.«

Zeitzeugen An der Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche nahmen mehrere Hundert Gäste teil. Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) hielt eine Gedenkrede. Darin legte er eine minutiöse Analyse der Ereignisse im November 1938 vor und erinnerte an den englischen Konsul Robert T. Smallbone, der das Pogrom damals mit Entsetzen beobachtete und später zahlreichen jüdischen Flüchtlingen half, Deutschland zu verlassen.

Sehr bewegende Worte fand die Zeitzeugin Trude Simonsohn. Sie schilderte, wie sie Einzelhaft, Theresienstadt, Auschwitz und das Lager Kurzbach überlebt hat – als Einzige aus ihrer Familie. Unermüdlich erzählt die 91-Jährige, die 2010 mit dem Ignatz-Bubis-Preis ausgezeichnet wurde, immer wieder ihre Lebensgeschichte: »Ich werde das bis zu meinem Ende tun«, versprach sie. »Das bin ich denen schuldig, die nicht mehr erzählen können.«

Der komplette Text der Rede von Zentralratspräsident Dieter Graumann unter: www.zentralratdjuden.de/de/article/3879.html

Jom Haschoa

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