Nachruf

Abschied von einer engagierten Pädagogin

Raissa Kruk sel. A. (1949–2016) Foto: PR

Der Tod rüttelt die Erinnerung wach. Oft tut er es jedoch nur für sehr kurze Zeit – gerade, wenn es um ein in Vergessenheit geratenes Leben geht. Raissa Kruks letzte Jahre verliefen fernab aller Aufmerksamkeit. Gewiss hat ihr Kampf gegen die Krankheit – fünf Operationen in 18 Jahren – sie von der Öffentlichkeit abgeschieden. Doch viel mehr ist sie daran gescheitert, mit ihrem sozialen Denken den Ton anzugeben.

Am vergangenen Freitag konnte die Trauerhalle am jüdischen Friedhof Heerstraße bei Weitem nicht alle Gäste aufnehmen, die von Raissa Kruk Abschied nehmen wollten. Ihr Erbe war vor allem ihr unermüdlicher Einsatz für die Integration jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.

leben Geboren wurde Raissa Kruk im überwiegend jüdischen Ort Orgeew in Moldawien. Für ihre Großeltern war sie Rachil, die restliche Familie nannte sie Raissa. Sie studierte experimentelle Physik an der Universität Kischinew. Hin- und hergerissen zwischen Wissenschaft und Familie, entschied sie sich, Lehrerin zu werden.

1976 beschlossen die Eheleute Raissa und Naum Kruk, nach Israel auszuwandern. Sie bekamen eine Absage, wurden sogenannte »otkazniki«, die »Abgesagten«. Otkazniki der 70er-Jahre verloren in der Regel ihre Jobs und sämtliche Rechte, bildeten aber zugleich einen abgehobenen intellektuellen Untergrund. 1978 schließlich durften die Kruks aus der Sowjetunion ausreisen. Doch Raissas Eltern, vor Kurzem Israelis geworden, rieten ihr von Israel ab.

Mit israelischen Visa kam die Familie nach Wien und blieb einen Monat im Hotel »Zum Türken«, das von der Sochnut für diejenigen gemietet worden war, die sich gegen Israel entschieden hatten. Es gehörte schon eine gewisse Chuzpe dazu, dass die Kruks ohne deutsches Visum nach West-Berlin gelangten. Einige Stunden nach ihrer Landung wurden sie Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde. Das Berliner Leben begann.

laufbahn In der damaligen westdeutschen Hochschulphysik waren Frauen kaum vertreten. Abgesehen davon machte Raissa Kruk die Erfahrung, dass eine Promotion »mit Migrationshintergrund« finanziell aussichtslos ist. Der damalige Schulrat Klaus Wowereit ermutigte sie, die Schullaufbahn aufzunehmen. So startete Kruk als Russischlehrerin, um nach dem absolvierten Referendariat Physik und Mathematik zu unterrichten.

Man sollte meinen, im Pragmatismus der Neuankömmlinge gebe es keinen Platz für das Politische. Doch die Kruks gründeten 1980 die »Arbeitsgemeinschaft liberaler Juden und Freunde in Berlin« (ALJ). Die ALJ setzte sich zum Ziel, die Öffentlichkeit für Interessen und Nöte jüdischer Migranten aus der Sowjetunion zu sensibilisieren. Proteste gegen den Zuzugsstopp für sowjetische Juden in Berlin gehörten ebenso zum Programm wie die rechtliche Vertretung nichtjüdischer Angehöriger der Gemeindemitglieder.

gemeinde Von Anfang an war Raissa Kruk Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Kruk verlagerte ihre Aktivität auf die politische Bühne der Gemeinde. 1993 wurde sie in die Repräsentantenversammlung gewählt und übernahm den Vorsitz des Schulausschusses. Überdies wurde sie Konrektorin in der im selben Jahr gegründeten Jüdischen Oberschule. Es begann die wohl produktivste Phase ihres Lebens – die zugleich die bittersten Niederlagen mit sich brachte.

Raissa Kruks Hauptthema war integrative Bildungspolitik. Einerseits versuchte sie, entwürdigende Migrationserfahrung der Eltern – ohne Sprache, ohne Vernetzung, ohne Geld – durch soziale Programme zu kompensieren, die den Kindern den Einstieg in die Gesellschaft erleichterten.

Andererseits initiierte sie Projekttage mit Themen wie »Miteinander leben, einander verstehen«, »Irgendwie anders«, um Spannungen zwischen den deutsch- und russischsprachigen Schülern abzubauen. Dass es diese Spannungen gab, bestätigen die Zeitungsberichte der 90er-Jahre, in denen »die Russen« als das Hauptproblem der jüdischen Oberschule dargestellt wurden.

gymnasium Ohne Zweifel war Raissa Kruk eine selbst- und machtbewusste Konrektorin; Konkurrenz ertrug sie schwer. Nachdem der erste Direktor des Gymnasiums, Uwe Mull, gegangen war, erhob sie Anspruch auf die Leitungsposition. Doch der Senat hielt ihre pädagogische Qualifikation für unzureichend. Auch die Lehrerschaft zeigte sich gespalten, denn Raissa Kruks Führungsstil war kompromisslos. Sie wurde zunehmend verbittert und wirkte umso polarisierender.

1998 erkrankte Raissa Kruk zum ersten Mal. Zwar kehrte sie nach der Operation zurück, blieb jedoch der Führungsebene fern. Sie unterstützte die Gemeinde als Bildungskoordinatorin, unter anderem mit dem Konzept für das Modell einer Gemeinschaftsschule als Alternative zum reinen und daher elitären Gymnasium.

Es gibt heute Schüler im jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn, die Kinder der ersten Schülergeneration sind. Es gibt aber in der 2013 erschienenen Geschichte des Gymnasiums kein Kapitel über Raissa Kruk. Vielleicht ist ihr Tod Anlass genug, sie zu ergänzen.

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