Augsburg

100 Jahre Leben

Die Augsburger Synagoge gilt als eines der schönsten jüdischen Gotteshäuser in Deutschland. Foto: dpa

Augsburg

100 Jahre Leben

Für den Vorsitzenden Alexander Mazo ist der Gemeindealltag ein ständiges Experimentieren

von Katrin Diehl  19.06.2017 18:09 Uhr

Vor der Halderstraße 6 bis 8 gibt es noch 1000 Kleinigkeiten zu erledigen. Ältere Herren in kurzärmeligen karierten Hemden und Baseballcaps auf dem Kopf nehmen sich die grünen Büschel vor, die zwischen einigen Gehwegplatten hervorspitzen. Auf der Straße – zwischen Hauptbahnhof und Königsplatz – herrscht reger Auto- und Tramverkehr. Wer in Augsburg Ruhe sucht, muss noch ein paar Ecken weiter gehen.

Oder man tritt in das Gebäude Halderstraße 6 bis 8. Das Tor öffnet sich, und es ist still. »Spaziba«, raunt eine Dame im grauen Arbeitskittel der anderen Dame im selben Outfit zu. Sie half ihr beim Tragen der Putzutensilien. Hinter dem schön angelegten Eingangshof wächst die Synagoge in den Himmel. Die einzige Großsynagoge in Bayern, die »überlebt« hat.

Alexander Mazo, seit 2005 erster Vorsitzender, seit 2009 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg, spricht, wenn es um die Synagoge und deren 100-jährige Geschichte geht, die man in diesem Jahr mit Veranstaltungen und Festlichkeiten feiert, immer wieder von einem Wunder. Es sei ein Wunder, dass sie während des Ersten Weltkriegs fertiggestellt wurde, ein Mirakel, dass sie die Nazizeit überstanden hat, herrlich, dass unter ihrer Kuppel heute wieder jüdisches Leben stattfindet. Und dies getragen von knapp 1500 Mitgliedern.

Bundespräsident So gehören auch die fleißigen Männer und Frauen der »Hausmeistermannschaft« zu diesem Wunder. »Denn wir als Gemeinde sind ja diejenigen, die hinter dem Festakt stehen.« Der wird – für geladene Gäste – am 28. Juni stattfinden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich angekündigt, wie auch andere politische Prominenz. Platz bietet die Synagoge für 700 Menschen.

Alexander Mazo sitzt in seinem Arbeitszimmer mit dunkler Holzvertäfelung und bunten Glasfenstern. Es befindet sich im linken Flügel des Gemeindegebäudes. Sachlich nimmt er sich der Fragen an, die sich stellen. Er weiß, wie viel Organisationsarbeit hinter so einem aufregenden Ereignis steckt, kennt die To-do-Liste, die nach einem kompetenten Team verlangt. »Da ist der Sicherheitsaspekt, der abgedeckt werden muss, die Tonaufnahmen in der Synagoge müssen klappen, überhaupt der Strom«. Und nicht zu vergessen: besagte »1000 Kleinigkeiten«.

Der 1955 in Usbekistan geborene Jurist lebt seit 2003 in Augsburg. Mit ihm und Landesrabbiner Henry G. Brandt, der seit 2004 Gemeinderabbiner der IKG Schwaben-Augsburg ist, kam die Gemeinde nach turbulenten, schwierigen Zeiten »wieder ins Lot«. 98 Prozent der Mitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, 40 Prozent sind älter als 60 Jahre. »Das ist eine Situation, die natürlich nicht einfach ist«, sagt Mazo. Die Zeit der jüdischen Zuwanderung habe sich in Augsburg mehr als 20 Jahre hingezogen. »Und wir befinden uns immer noch in einer Übergangszeit. Aber die Gemeinde sucht eigene, würdige Wege, das Leben der Menschen zu verbessern. Die Gemeinde soll in allen Lebenslagen helfen. Und sie schafft das auch – mit Gottes Hilfe.«

Sozialabteilung Da ist natürlich die Sozial- und Integrationsabteilung gefragt, aber auch das breite Angebot, wie ein Frauenklub, ein Lesecafé, eine Gesundheitsgruppe und ein aktives Jugendzentrum. »Vor Kurzem kam jemand und wollte wissen, ob wir nicht eine Sitztanzgruppe für die alten Menschen gründen sollten. Wir probieren das aus. So läuft das: experimentieren und sehen, was geht«, sagt Mazo und ergänzt, es sei schon etwas Besonderes, eine so schöne Synagoge im Rücken zu spüren. »Sie ist ein Zuhause. Sie ist das Zentrum. Sie ist eine Ehre – und sie ist eine große Verpflichtung.«

Seit nach der Sanierung des großen Innenraumes 1985 in der Synagoge auch das Jüdische Kulturmuseum seinen Platz gefunden hat, ist »jeden Tag viel Leben in den Räumen«. Nur am Schabbat werde es ruhig. Dann gehört die Synagoge dem Gottesdienst und den Menschen, die daran teilnehmen. »Wir sind eine Einheitsgemeinde. Rabbiner Brandt spricht mit der Gemeinde auf Deutsch, und die meisten Gemeindemitglieder verstehen die Sprache auch immer besser. Mit der Zeit wird alles besser«, zeigt sich der Gemeindevorsitzende zuversichtlich.

Im »früheren Leben« Rechtsanwalt gewesen zu sein, der auch Logik und Psychologie studiert hat, ist ihm als Vorsitzendem einer Gemeinde heute oft von großem Nutzen. »Ich kann zuhören. Ich höre Rabbiner Brandt zu. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir diskutieren, und am Ende einigen wir uns. So ist das zwischen jungen Menschen.« Alexander Mazo lacht. Landesrabbiner Henry G. Brandt wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Ein weiteres Fest, das ansteht.

Die Erbauer der Synagoge »machten uns vor, wie man die sich immer weiter entwickelnden Grundsätze der Tora verbinden kann mit einem erfüllten und weltoffenen Leben in der Zivilgesellschaft«, schreibt Brandt in seinem Grußwort zum Jubiläumsprogramm.

Minjan Die Augsburger Gemeinde bekomme so gut wie immer einen Minjan zusammen, sagt Josef Strzegowski stolz. Er ist Gabbai, Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Kultur, unterrichtet Hebräisch und ist Percussionist des Klezmer-Ensembles Feygele. Gerade bereitet er einen Jungen auf seine Barmizwa vor. Strzegowski kam als Kind mit seinen Eltern, Schoa-Überlebende aus Polen, nach dem Krieg nach Augsburg.

Er sei in der Synagoge, um die er sich jetzt kümmert, groß geworden, erzählt er. »Ja, ich gehöre zu den zwei Prozent ›Augsburgern‹. Man steht in losem Kontakt mit den Zuwanderern, und wir sind auch darum bemüht, im Gottesdienst eine Atmosphäre zu schaffen, dass sich jeder willkommen fühlt, und manche Alteingesessenen kommen ja auch.«

Nach dem 28. Juni geht die Arbeit weiter. Die Denkmalschutzbehörde hat dem Vorplan zur Generalrestaurierung der Synagoge zugestimmt und die Stadt ein Areal für einen neuen Friedhof freigegeben. »Außerdem haben wir die Nachricht erhalten, dass wir im neuen Integrationsbeirat der Stadt Augsburg vertreten sind«, sagt Alexander Mazo. »Wir sind auf dem richtigen Weg.«

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