Im Talmud wird debattiert, ob die Welt im Frühling oder im Herbst erschaffen wurde. Der jüdische Kalender kennt vier »Neujahre« und zwei Daten, die als Geburtstag der Welt gelten. Der erste Nissan im »Monat des Frühlings« gilt als Rosch Chodaschim, »Kopf der Monate«. Es ist der erste Neumond, den die Israeliten gezählt haben. Der erste Tischri wiederum heißt Jom Teru’a, »Tag des Posaunenschalls« – unser Rosch Haschana, das »Haupt des Jahres«.
Während die Monatszählung im Nissan beginnt, feiern wir den Jahresanfang also erst im siebten Monat Tischri. Würde man wiederum ab Tischri zählen, wäre Nissan der siebte Monat. Die Zahl sieben verweist auf Vollendung: Winter- und Sommerzyklus gehen an diesen Daten ineinander über.
Der jüdische Kalender ist lunisolar: Die Monate richten sich nach dem Mond, die Ausrichtung des Jahres aber orientiert sich an der Sonne. Die zwei Himmelskörper sind traditionell mit einer starken Symbolik aufgeladen.
Im Sefer Jetzira, einem Werk der frühen Kabbala, entdecken wir eine mystische, zunächst vollkommen kryptisch scheinende Stelle: »Drache in der Welt wie ein König auf seinem Thron. Rad im Jahr wie ein König in seinem Staat. Herz in der Seele wie ein König im Krieg«.
Hier werden drei Rollen Gottes beschrieben: als König auf dem Thron, im Staat und im Krieg. Dies erfolgt in drei Dimensionen: im Raum, in der Zeit und in der menschlichen Seele. Was bedeutet das für unsere Jahresanfänge? Die Sonne (Feuertier Drache) bestimmt den Tischri und erleuchtet den Weltraum. Der Mond dreht »das Rad im Jahr«: Mit dem ersten Neumond im Nissan beginnt die Zeit. Und der Mensch braucht für seine Seele auf der Erde den Schabbat. So haben Jahres-, Monats- und Wochenzyklus jeweils eigene Funktionen.
Der Jahreszyklus beginnt im Tischri und stellt die gesamte Schöpfung unter prüfendes Licht: Gott stellt uns vor sein Gericht und ruft zur Umkehr auf. Der Nissan wiederum symbolisiert als erster Monat des Mondzyklus, als Beginn des Exodus, Befreiung und Aufbruch. Der Mensch balanciert zwischen beiden – frei, verantwortlich, lernend. Wo die Sonne Konstanz symbolisiert und der Mond Wandlung, verbinden wir auf der Erde beide Zustände.
Maimonides beschreibt in Hilchot Kiddusch haChodesch zwei Zeitzyklen: den Machsor Katan – einen 19-Jahres-Zyklus mit sieben Schaltjahren zur Synchronisierung von Mond- und Sonnenjahr – und den Machsor Gadol, einen 28-Jahres-Zyklus, nach dessen Ablauf sich Sonnenjahr und Wochentage wieder decken.
Letzterer ist Anlass für die Segnung der Sonne (Birkat haChama). »Machsor« bedeutet Wiederkehr. Im Zusammenspiel von Mond, Sonne und Erde tritt die Zahl sieben hervor: sieben Winter- und Sommermonate, sieben Schaltjahre im 19er-Zyklus und sieben Tage der Woche. Doch jüdische Zeit verläuft nicht im Kreis, sondern in einer Spirale: Feste kehren wieder – jeweils auf höherer Stufe. Der Weg nach oben heißt Teschuwa, die Rückkehr zu einem erneuerten Selbst, einem höheren »Ich«.
Rosch Haschana fällt nie auf einen Sonntag, Mittwoch oder Freitag.
Eine Regel der Kalenderarithmetik lautet: Rosch Haschana fällt nie auf einen Sonntag, Mittwoch oder Freitag, Pessach nie auf Montag, Mittwoch oder Freitag. Maimonides erklärt: Grundlage ist die »mittlere« (nicht die »wahre«) Bewegung von Sonne und Mond – ein rechnerischer Ausgleich. Der Talmud nennt praktische Gründe: Jom Kippur soll nicht auf Freitag oder Sonntag fallen, damit Bestattungen nicht verzögert werden; am Freitag wäre der Schofarstoß zum Schluss unmöglich, weil mit Sonnenuntergang der Schabbat bereits beginnt. Auch Hoschana Rabba, der siebte Sukkot-Tag, soll nicht auf Schabbat fallen, damit die »Vier Arten« (Arba Minim) benutzt werden können.
Es gibt aber auch eine kabbalistische Begründung: Die Wochentage entsprechen den sieben unteren Sefirot – der göttlichen Architektonik – und weisen jeweils auf bestimmte Eigenschaften des Schöpfers hin: Sonntag (Chesed) steht für Gottes überfließende Liebe und Güte und wäre ungeeignet für den Tag des Gerichts. Mittwoch (Netzach) gilt als Tag der Erschaffung von Mond und Sonne und steht somit ebenfalls für Barmherzigkeit. Und Freitag (Jesod) ist der Tag der Erschaffung des Menschen und somit kein guter Zeitpunkt für seine Anklage.
Nach chassidischer Interpretation ist der Mond klein, verborgen, intim – während die Sonne groß, öffentlich und weltumfassend ist. Rosch Haschana feiern wir immer zu Neumond: Die Erneuerung des Jahres beginnt also im Verborgenen. Von der Erde aus gesehen fällt die uns zugewandte Seite des Mondes in den Schatten und ist unsichtbar, am Tag aber steht die Sonne hell am Himmel. Die Nacht gehört dem privaten Menschen – der inneren Arbeit. Am Tag soll die Gesellschaft sich öffentlich erneuern. Zwischen allem gilt es, Balance zu halten: innerliche Erneuerung, gesellschaftliche Ordnung, kosmisches Gleichgewicht. Der große Schofarstoß verbindet diese Dimensionen – er ist die Brücke zwischen innerer Zeit und äußerem Raum, ein Ruf nach Harmonie und Weltfrieden.
Der Autor arbeitet bei »Nevatim«, einem Bildungsprogramm der Jewish Agency for Israel. Er ist außerdem Schofarbläser in der Zentralen Orthodoxen Synagoge in Berlin.