Wenn man Menschen bitten würde, einen Moment zu benennen, der die Liturgie von Jom Kippur am besten veranschaulicht, würden viele vermutlich das Kol Nidre nennen – den Ehrfurcht gebietenden Gesang, der zugleich den emotionalen Höhepunkt der Abendgebete markiert. Doch obwohl die eindringliche Melodie nicht der eigentliche Beginn des Gottesdienstes ist, neigen wir dazu, ihre Einleitung einfach zu übersehen. Denn die Liturgie von Jom Kippur beginnt mit einem überraschenden Vers, der dreimal wiederholt wird: »Licht wird dem Gerechten gesät und Freude den aufrichtigen Herzen« (Psalm 97,11).
Die Worte des Psalmisten von Licht und Feierlichkeit werden von der ernsten Melodie des Kol Nidre überstrahlt. Dennoch möchte ich die These formulieren, dass diese einleitenden Worte den Geist des Tages besser verkörpern als das Kol Nidre selbst. Indem die Weisen, die unsere Liturgie verfassten, es wagten, Jom Kippur mit dieser freudigen Note zu beginnen, griffen sie Hinweise auf, die über das gesamte jüdische Schrifttum verstreut sind. Damit boten sie eine subtile, zugleich aber radikale Neuinterpretation des Feiertags an, und zwar die Wahrnehmung von Jom Kippur als einen Tag der Freude.
Im Traktat Taanit des Talmuds finden wir eine bemerkenswerte Aussage von Rabban Schimon ben Gamliel: »Es gab keine Tage, die für das jüdische Volk so freudvoll waren wie der 15. Aw und Jom Kippur.« Diese Verbindung wirkt auf den ersten Blick merkwürdig. So weckt Tu beAw – heute manchmal als »jüdischer Valentinstag« bezeichnet – Bilder von Romantik und Feier. Junge Frauen Jerusalems kleideten sich ganz in Weiß und tanzten in den Weinbergen. Dabei riefen sie potenziellen Verehrern zu: »Hebt eure Augen und seht, wen ihr euch erwählt!«
Aber Jom Kippur? Ein Tag des Fastens, des Gebets und der spirituellen Abrechnung – also eher ein Tag, an dem wir aufgefordert sind, unsere Seelen zu prüfen. Welche Freude könnte darin liegen? Und dennoch scheint der Talmud eher von der Bezeichnung des Tu beAw als Freudentag überrascht zu sein als von Jom Kippur. Was beide Tage vereint, ist die Tradition, weiße Gewänder zu tragen.
Es gibt jedoch zwei Arten dieser Farbe. An Tu beAw symbolisiert das Weiß Gleichheit. Konkret heißt das: Jede Frau lieh sich ein helles Kleid von einer Freundin, damit niemand nach Reichtum oder Status beurteilt werde. Es handelte sich dabei um ein sanftes Weiß, das demokratisch und hoffnungsvoll wirkt. Und der historische Kontext verstärkt genau diesen Eindruck: Tu beAw markiert die Aufhebung eines Verbots, das dem Stamm Benjamin nach einer finsteren Episode, geschildert im Buch der Richter, die Eheschließung mit Partnern aus anderen Stämmen untersagt hatte. Paare, die durch solche Grenzen getrennt waren, durften endlich zusammenfinden. Die Freude resultierte aus genau dieser Versöhnung und aus der Liebe, die nach dem Ende des Verbots wieder aufblühen durfte.
Jom Kippur ist wie »die zweite Liebe«, nach dem Zerbrechen der naiven Träume.
An Jom Kippur hingegen hat das Weiß einen völlig anderen Kontext. So erklärt Rabbi Mosche Isserles, auch der Rema genannt, dass weiße Kleider an das Totengewand erinnern, das angelegt wird, um uns an unsere Endlichkeit zu erinnern und zur Demut zu mahnen. Es handelt sich also um das Weiß der Sterblichkeit, das beim Erscheinen vor dem göttlichen Richter getragen wird.
Auch hier sorgt das Weiß für eine Gleichheit zwischen Arm und Reich. Denn alle werden im selben einfachen Leinentuch – dem Tachrichim – bestattet. Auch heute ist es noch üblich, dass Männer an Jom Kippur einen weißen Kittel tragen, was sowohl als Anspielung auf das Totengewand als auch auf die weißen Kleider des Hohepriesters, die er beim Eintreten in das Allerheiligste trug, gedeutet werden kann.
In beiden Fällen – Tu beAw und Jom Kippur – schwingt mit der weißen Farbe dieselbe Bitte mit: »Beurteile mich nicht im Vergleich zu anderen, sondern nach dem, was ich bin.«
Aber da ist noch mehr. Die Freude an Jom Kippur, so lehrt uns die Gemara, rühre auch daher, dass es der Tag sei, an dem Mosche die zweiten Gesetzestafeln empfangen sollte, nachdem die ersten zerbrochen waren. Auf den ersten Blick mag das etwas merkwürdig erscheinen – schließlich existieren die zweiten Gesetzestafeln nur, weil die ersten zerbrochen wurden, als Mosche Zeuge des Tanzes der Israeliten um das Goldene Kalb wurde.
Doch in unserer Tradition werden die zweiten Gesetzestafeln keinesfalls als Trostpreis gesehen. Der Midrasch Tanchuma scheut sich nicht, das Scheitern zu benennen: Die Sünde des Volkes Israel hatte einen dezidierten Bruch mit dem Bund zu Gott verursacht, symbolisiert durch das Zerbrechen der ersten Tafeln. Viel bedeutsamer aber ist die Tatsache, dass Gott sich bereit zeigte, genau diesen Bund zu erneuern. Gemäß dieser rabbinischen Lesart sind die zweiten Gesetzestafeln daher mehr als nur ein Zeugnis davon. Vielmehr werden sie zum Symbol der ewigen Liebe Gottes zu Israel, zu einem greifbaren Beweis dafür, dass einmal Zerbrochenes wieder repariert werden kann. Gott selbst markiert diesen Moment als einen der Freude: »Freut euch mit mir! Lasst alle sich freuen, denn ich vergebe Israels Sünden!«
All das führt uns überraschenderweise zurück zu den Tänzen anlässlich von Tu beAw. Der Talmud beschreibt den alten Jom-Kippur-Tanz Israels als Mecholot (Reigen). Der chassidische Weise Zwi Elimelech aus Dinov, ein Schüler des berühmten Sehers von Lublin, bemerkte, dass die Kreistänze an Jom Kippur passend seien, weil »Mecholot« sich denselben Wortstamm wie »mechal« (verzeihen) teile. Die Vergebung, die zu Jom Kippur angestrebt wird, ist die eigentliche Rückkehr zum Ursprung, zu dem Zustand, der vor der begangenen Sünde liegt, und zwar mit Körper, Herz und Seele.
Die mystische Tradition geht sogar noch weiter. Der Sohar lehrt uns, dass die zweiten Gesetzestafeln spirituell höher stehen als die ersten, und das, obwohl sie denselben Inhalt haben. Warum? Die Antwort lautet: Sie stehen für Teschuwa, eine spirituelle Rückkehr oder auch Wiederherstellung. Denn sie sind genau von dem göttlichen Licht durchdrungen, das den ersten fehlte: ein Licht, das durch die Teschuwa verdient wurde.
Das weckt Assoziationen an die japanische Kunst des Kintsugi, wörtlich übersetzt »Goldreparatur«. Gemeint ist damit der Prozess, Keramik zu reparieren, indem man die entstandenen Risse mit Gold ausfüllt. Das zuvor zerbrochene Gefäß erhält so einen höheren Wert als vor dem Bruch. Und genau so ist Gottes Liebe. Sie entsteht nach einer Ernüchterung oder Enttäuschung, nachdem das Ideale zerbrochen ist. Aber gerade deshalb ist sie viel intensiver und beständiger.
Der jüdisch-italienisch-amerikanische Schriftsteller André Aciman schrieb einmal: »Wir lieben nur einmal im Leben – manchmal zu früh, manchmal zu spät; die anderen Male sind immer ein wenig absichtlich.« Die jüdische Tradition stellt diesen Satz quasi auf den Kopf. Die zweite Liebe, die intendierte, ist keinesfalls minderwertig, sondern sogar größer. Es ist genau die Liebe, die der Realität standhält, eine Liebe, die das Zerbrechen der naiven Träume überlebt hat und Bestand hat, obwohl die ersten Gesetzestafeln zerbrochen wurden. Das ist das wahre Wunder göttlicher Liebe – eine Liebe, in der stets der Satz mitschwingt: »Trotz allem: Ich bin dein Gott.«
Jom Kippur, erklärt Rabbiner Jonathan Sacks, hilft uns, eine der größten Fragen des Lebens zu beantworten: »Wie ist es möglich, ein ethisches Leben zu führen, ohne von Schuld, Unzulänglichkeit und Versagen geradezu erdrückt zu werden?« Im Traktat Joma formuliert Rabbi Jehuda HaNasi einen radikal klingenden Satz: Allen bringt Gott für ihre Vergehen, egal, ob man sie bereut oder nicht, Vergebung – außer denjenigen, die Gott gänzlich leugnen oder den Bund als solchen ablehnen. Mit anderen Worten: Solange man in Beziehung bleibt, solange die Verbindung anerkannt wird, ist Vergebung möglich.
»Vergebung ist eine Handlung, keine Reaktion. Sie durchbricht den Zyklus von Reiz und Reaktion, von Schaden und Vergeltung, von Unrecht und Rache, die ganze Kulturen in den Untergang geführt hat und noch immer die Zukunft der Welt bedroht. Vergebung befreit Individuen von der Last ihrer Vergangenheit und die Menschheit von der Unumkehrbarkeit der Geschichte.«
Menschen jedoch können nicht an dieselben Maßstäbe von Liebe und Vergebung wie der Schöpfer selbst gebunden werden. Die Mischna nennt daher eine wichtige Unterscheidung: Zwischen Mensch und Gott kann Jom Kippur Vergebung bringen. Zwischen Mensch und Mensch jedoch bringt Jom Kippur keine, solange der in Mitleid Gezogene anders nicht besänftigt wird. Zudem zeigen die Rituale, also Fasten, Gebet und das Bekenntnis, wie hart erarbeitet wahre Vergebung sein kann.
Der Tag bietet eine spirituelle Sicherheit: Du darfst scheitern.
Manche Weisen betrachten Teschuwa auch als etwas, das der Schöpfung selbst vorausgeht. Wie Rabbi Adin Steinsaltz bemerkt, bedeutet dies, dass eine Umkehr zutiefst mit der Existenz unseres Universums verbunden ist. Es gibt keinen Ort in der Welt, kein Wesen in der Schöpfung, das von der Möglichkeit zur Wiederherstellung ausgeschlossen wäre. Jeder Mensch kann den Lauf seines Lebens verändern. Teschuwa sei daher der höchste Ausdruck menschlicher Freiheit, eine Manifestation des Göttlichen in uns.
Ohne Jom Kippur wären wir womöglich in ständiger Furcht gefangen, dass selbst die kleinsten, unbeabsichtigten Fehler uns für immer verfolgen würden. Jom Kippur aber heißt: Du darfst scheitern. Und viel wichtiger: Du darfst umkehren. Genau das macht die intensive Freude an Jom Kippur aus. Zu erkennen, dass wir nicht perfekt sind und trotz unserer Unvollkommenheit geliebt werden. Der Tag bietet spirituelle Sicherheit, einen Raum der Gnade, in dem wir uns selbst ehrlich begegnen und wissen dürfen, dass wir nicht einfach verurteilt sind.
Die Freude von Jom Kippur bedeutet nicht einfach Lachen oder Ausgelassenheit. Vielmehr ist es die Freude des Überlebens, der Versöhnung, der zweiten Chancen. Es ist die Freude darüber, dass die Liebe Bestand hat – selbst in unserer Zerbrochenheit. An Tu beAw tanzen wir. An Jom Kippur zittern wir. Aber an beiden Tagen finden wir uns vereint in der gemeinsamen Suche: nach einer Liebe, die bleibt – selbst nach dem Bruch.
Die Autorin ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel.