Das Judentum ist eine Religion des Lebens – das ist ein zentrales Leitmotiv, das sich durch die jüdische Tradition zieht. Wenn wir zusammenkommen, stoßen wir sogar auf das Leben an: »Le Chaim!« heißt es dann, und die Gläser klirren. Doch heißt das im Umkehrschluss, dass wir Juden nicht an ein Leben nach dem Tod glauben? Nicht an eine kommende Welt? Nein! Denn das eine muss das andere ja nicht ausschließen. Aber dennoch gilt es, Prioritäten zu setzen. Und die liegen nun einmal im Hier und Jetzt und nicht im Dann.
Die Tora selbst enthält dazu so manches, das die Stoßrichtung ohne jeden Zweifel vorgibt. Das geht schon mit dem ersten Gebot los, das sich im 1. Buch Mose findet. In der dort beschriebenen Schöpfungsgeschichte gibt der Ewige dem ersten Menschenpaar als Archetypen den folgenden Auftrag: »Seid fruchtbar und vermehret euch!« (1. Buch Mose 9,7). Um das zu verstehen, braucht es kein Theologiestudium. Im 5. Buch Mose wird es noch deutlicher. Dort heißt es: »Ich habe vor dich hingegeben das Leben und den Tod, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst. Du und deine Nachkommen« (5. Buch Mose 30,19).
Grundsatz von Pikuach Nefesch
Außerdem gibt es den bekannten Grundsatz von Pikuach Nefesch. Was so viel heißt wie: das Behüten der Seele. Dieses elementare Prinzip zielt vor allem auf den Schutz und die Bewahrung des Lebens ab. Im 3. Buch Mose heißt es dazu: »Und wahret meine Satzungen und meine Vorschriften, die der Mensch tue, dass er durch sie lebe!« (18,5). Das heißt: Dass er durch sie lebe und nicht durch sie sterbe. Der Talmud ergänzt diese Passage und erklärt, dass die Gesetze der Tora nur dann Verbindlichkeit entfalten, wenn ihre Befolgung nicht zum Tode führt (Joma 85b).
Nahezu alle Gesetze, Vorschriften und Handlungsanweisungen des Judentums stehen unter dem Vorbehalt, dass man durch sie lebe.
Nahezu alle Gesetze, Vorschriften und Handlungsanweisungen des Judentums stehen damit unter dem Vorbehalt, dass man durch sie lebe. Zwar gibt es auch in diesem Fall Ausnahmen von der Regel, doch diese ändern nichts an dem grundlegenden Prinzip. Nein, sie bestätigen es vielmehr.
Das bedeutet also, dass nahezu alle Vorschriften außer Kraft gesetzt werden können und nicht befolgt werden müssen, wenn eine Gefahr für das Leben besteht. Oder wenn nur der Anschein einer Gefahr für das Leben besteht. Oder wenn durch ihre Übertretung ein Leben gerettet werden kann. Will heißen: Die Lehre Gʼttes soll das Leben fördern, nicht den Tod. All diese Beispiele zeigen, wohin die jüdische Reise geht. Nämlich zu einer Religion, die auf das Leben ausgerichtet ist. Und zwar auf das Leben im Diesseits, nicht im Jenseits! Die Tora verschwendet nicht allzu viel Tinte auf das Leben danach.
Die Tora ist die Lehre des Lebens
Es gibt hier und da ein paar Andeutungen. Gerade genug, um nicht an dem Prinzip zu zweifeln. Mehr aber auch nicht. Denn die Tora ist die Lehre des Lebens. Und genau das will sie auch sein. Sicher: Die Mystiker und die Kabbalisten beschäftigen sich in ihren Schriften eingehend mit dem, was nach dem Tod kommt. Da aber bisher noch niemand von den Toten zurückgekommen ist, um all die Vorstellungen und Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen, bleiben es eben Vorstellungen und Theorien. Das Judentum allerdings kümmert sich um uns Menschen im Hier und Jetzt.
Ganz im Sinne des folgenden Witzes: Ein junger Mann fragt den Rabbiner: »Ich wünsche mir nichts so sehr wie ewig zu leben! Was soll ich tun?« Der Rabbiner antwortet: »Heirate.« – »Werde ich dadurch ewig leben?« – »Nein, aber der Wunsch wird vergehen.«
Aber im Ernst: Bei genauem Hinsehen stoßen wir nicht nur auf bestimmte Vorschriften oder Prinzipien, die den Wert des Lebens im Diesseits betonen, sondern wir entdecken noch viel mehr. Nämlich, dass der gesamte Boden, auf dem das Judentum gründet, von dem Gegensatz zwischen Leben und Tod durchzogen ist. Von der Vorherrschaft des Lebens über den Tod. Und von der strikten Trennung dieser Sphären.
Das Judentum reicht gut 3300 Jahre in eine Welt zurück, in der sich nahezu alle anderen Kulturen und Religionen über weite Strecken mit dem Tod beschäftigten. Durch Mythen und Rituale, durch Praktiken und Zeremonien. Durch Menschenopfer, Zauberei, Wahrsagerei, Todeskulte und vieles mehr.
Das Judentum wuchs außerdem im damaligen Ägypten auf einer Zivilisation, deren eindrucksvollste Bauten, also die Pyramiden, vor allem anderen Grabmäler für die Pharaonen waren. Deren Bibel das Buch des Todes war. Und deren Priester sich über weite Strecken mit dem Tod und dem Danach befassten.
Befreiung des Geistes
In diese Zeit und in diese Welt schlug die Tora eine Bresche für das Leben. Das Judentum entstand so als krasser Gegenentwurf zu den Todeskulten und Jenseitsvorstellungen seiner Zeit. Als radikaler Gegensatz. Die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten bedeutete nicht nur das Ende körperlicher Peinigungen, sondern auch die Befreiung des Geistes. Es war die Flucht aus einem System, das den Tod heiligte, in eine neue Welt des Lebens.
Das Judentum entwickelte sich als Gegenentwurf zu den vorherrschenden Todeskulten.
Um den Graben zu den Kulturen des Todes so tief wie möglich zu machen und um so viel Abstand wie nur möglich zu den Religionen des Jenseits zu gewinnen, schuf die Tora ein brachiales System des Lebens. So dürfen sich die Priester im Judentum nicht mit dem Tod beschäftigen. Sie wohnen keinen Beerdigungen bei und dürfen bis auf wenige Ausnahmen keine Friedhöfe betreten.
Außerdem besagen die Speisegesetze, dass wir ein Kalb nicht in der Milch seiner Mutter kochen dürfen. Weshalb Juden Fleischspeisen und Milchspeisen strikt trennen. Ein Grund: Es ist ein starkes Symbol für die Trennung von Leben und Tod. Die nährende und lebensspendende Milch der Mutter darf nicht zweckentfremdet werden, um das Kalb darin zu kochen. Milch symbolisiert Leben und das Fleisch des Kalbes den Tod. Beides gehört nicht zusammen, sondern muss strikt getrennt bleiben. Selbst beim Essen.
Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie tiefgreifend das Judentum von diesen Vorstellungen durchdrungen ist. Wie elementar die Abwendung vom Tod ist. Und wie grundlegend die Hinwendung zum Leben. Deshalb: Wähle das Leben! Liebe das Leben! Auf das Leben! »Le Chaim!«
Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.