Liturgie

Vom Propheten lernen, heißt umkehren lernen

Von Umkehr ist ausdrücklich im Buch Jona die Rede. Foto: Thinkstock

Unsere Weisen haben angeordnet, dass man im Nachmittagsgebet am Jom Kippur sowohl aus der Tora als auch aus den Propheten vorlesen soll. Doch welche Texte? Im Talmud (Megilla 31a) steht, dass der Abschnitt über die verbotenen sexuellen Beziehungen (3. Buch Mose 18) und das Buch Jona vorzutragen sind. Da in beiden Texten aber nicht von Jom Kippur die Rede ist, drängt sich die Frage auf, warum gerade sie als für den Versöhnungstag passend ausgewählt worden sind.

In der Regel findet man bei näherer Betrachtung einen Zusammenhang zwischen der Toralesung und der folgenden Haftara, der Prophetenlesung. Liegt hier eine Ausnahme vor, oder gibt es irgendeine Verbindung zwischen den Toravorschriften im Wochenabschnitt »Achre Mot« und den Ausführungen im Buch Jona?

sünde Gehen wir zuerst auf die Frage ein, warum die Weisen das Kapitel über verbotene sexuelle Handlungen ausgewählt haben. Im 2014 veröffentlichten hebräischen Werk Bamesila Na’ale von Rabbiner Berel Dov Wein (Jerusalem) finden wir eine kleine Abhandlung über dieses Thema. Der Autor führt aus, dass Gedanken an verbotene sexuelle Aktivitäten auch an einem so heiligen Tag wie Jom Kippur – und gerade an einem solchen besonderen Tag, an dem diese verboten sind! – Menschen bedrängen können. Nicht nur Taten, sondern auch Gedanken können eine schwere Sünde sein (siehe Talmud, Joma 29a).

Deshalb die öffentliche Erinnerung an diese Vergehen! Rabbiner Wein betont, dass das Judentum keineswegs ein Leben der Enthaltsamkeit glorifiziere; vielmehr zeigen uns die vorgetragenen Vorschriften der Tora den Weg, wie unsere gefährliche Triebhaftigkeit gezähmt werden kann. Raschi, der klassische Bibel- und Talmudkommentator, begründet die Lesung des 3. Buch Mose 18 am Jom Kippur recht pragmatisch. Raschi meint, diese Torapassage wurde deshalb ausgewählt, weil Sexualvergehen relativ häufig begangen werden. Der öffentliche Vortrag soll diejenigen Menschen, die auf diesem Gebiet gestrauchelt sind, am Jom Kippur zur Umkehr (Teschuwa) bewegen.

zorn Von Umkehr ist ausdrücklich im Buch Jona die Rede, und zwar sind zwei Fälle zu betrachten. Der Prophet Jona bekam von Gott den Auftrag, die Einwohner der großen Assyrerstadt Niniwe zur Umkehr zu bewegen. Was hatten die heidnischen Assyrer getan, dass sie den Zorn Gottes auf sich zogen? Das Buch Jona 1,2 spricht von der Bosheit (so die Übersetzung von Leopold Zunz) oder dem »Frevel« (so die Übersetzung von M. Hirsch) der großen Stadt. Vor Jahren hat Chajim Abramowitz die Vermutung geäußert, die Vergehen der Einwohner von Niniwe seien sexueller Natur gewesen (wie viel früher das Fehlverhalten der Einwohner von Sodom im 1. Buch Mose).

Aus der Tatsache, dass in Niniwe Tiere in den Umkehr-Prozess einbezogen wurden – »Und es sollen sich in Säcke hüllen Menschen und Vieh« (Kapitel3,8) – schließt Abramowitz, dass Geschlechtsverkehr mit Tieren zu sühnen war. Von Sodomie war bereits in der Toralesung vor der Haftara zu hören (siehe 3. Buch Mose 18, 23). Nach Abramowitz gibt es also eine direkte Verbindung zwischen der Toralesung und der Haftara – seine Deutung des Vergehens der Assyrer ist allerdings umstritten.

reue Wenn Umkehr mit dem Buch Jona in Verbindung gebracht wird, sollte man nicht nur an die nichtjüdischen Einwohner von Niniwe denken, die nach Ankündigung des Unheils sofort Reue zeigten und den Weg der Teschuwa einschlugen. Auch der jüdische Prophet hatte sich offensichtlich verkehrt verhalten: Jona wollte den ihm vom Ewigen erteilten Auftrag zunächst nicht ausführen! Wie Rabbiner Nobel in seinem Buch Thabor (1899) bemerkte: »Wir haben nicht über Jona zu Gericht zu sitzen, sondern von ihm zu lernen.«

Jonas Geschichte zeigt uns, dass ein Prophet nicht unter Zwang handelt; er hat (wie jeder gesunde Mensch) Willensfreiheit und kann sich so oder so verhalten. Nachdem seine Flucht fehlschlug, hat Jona seine Haltung geändert, Teschuwa getan und ist nach Niniwe gegangen, wie Gott es von ihm verlangt hatte. Der Vortrag von Jona am Jom Kippur in der Synagoge soll jeden Hörer aufrütteln und zur Selbstbefragung anregen: Fliehst du vor einer dir gestellten Aufgabe? Sollte dies der Fall sein, dann korrigiere dein Fehlverhalten!

Erwähnenswert ist, dass in vielen Gemeinden im Anschluss an die vier Kapitel von Jona die letzten drei Verse des Buches Micha vorgetragen werden (Kapitel 7,18–20). In dieser kurzen Passage wird die zentrale Botschaft von Jom Kippur ein weiteres Mal klar und deutlich ausgesprochen: Gott ist gnädig und an der Umkehr des Menschen sehr interessiert. Er ist bereit, Verfehlungen und Sünden von Menschen zu verzeihen, die sich für den Weg der Umkehr entscheiden.

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