»Wann bleibt dann Zeit für die Tora?« Diese Frage stellt Rabbi Schimon bar Jochai im Talmud-Traktat Brachot (35b). Er erwähnt die notwendigen landwirtschaftlichen Tätigkeiten – wenn also gepflügt, gesät, geerntet oder gedroschen werden muss – und benennt dann das Dilemma: Wie sieht die richtige Balance zwischen Torastudium und weltlicher Arbeit aus?
Nicht nur die talmudischen Weisen diskutierten diese Frage. Aktuell wird in Israel beispielsweise die Debatte um die Wehrpflicht und die Beteiligung am wirtschaftlichen Leben von Ultraorthodoxen geführt. Nur etwa 54 Prozent der charedischen Männer in Israel gehen einer Erwerbstätigkeit nach, der Rest nicht. Sie verweisen meist darauf, dass sie Vollzeit Tora lernen.
Der amerikanische orthodoxe Rabbiner Steven Pruzansky schreibt in seinem Buch Tzadka mimeni: The Jewish Ethic of Personal Responsibility, dass die Klage von Rabbi Schimon bar Jochai zumindest auf den ersten Blick nicht unberechtigt ist: »Was wird tatsächlich aus der Tora, wenn jeder Mann arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in der Armee dienen muss, um das Land zu verteidigen, Zeit mit seiner Ehepartnerin und seinen Kindern verbringen und sich um die anderen Bedürfnisse der Gesellschaft kümmern muss?«
Rabbi Schimon bar Jochais Auffassung, sich ausschließlich dem Torastudium hinzugeben, blieb nicht unwidersprochen
Darüber sind die talmudischen Weisen unterschiedlicher Auffassung. Rabbi Schimon bar Jochais Auffassung, sich ausschließlich dem Torastudium hinzugeben, blieb nicht unwidersprochen. Beispielsweise betont Rabbi Jischmael die Notwendigkeit, beides zu verbinden. Dabei beziehen sie sich jeweils auf unterschiedliche biblische Verse. »Dieses Buch der Tora soll nicht von deinem Mund weichen; du sollst Tag und Nacht darüber nachsinnen« (Jehoschua 1,8). Und andererseits: »Du sollst dein Getreide, deinen Wein und dein Öl sammeln« (5. Buch Mose 11,14).
Im erwähnten Talmud-Traktat Brachot (35b) wird dann noch diese Beobachtung zitiert: »Die früheren Generationen machten ihre Lehre zur Hauptbeschäftigung und ihre Arbeit zur Nebenbeschäftigung, so blieb sowohl dieses wie jenes in ihrer Hand bestehen. Die späteren Generationen aber machten ihre Arbeit zur Hauptbeschäftigung und ihre Lehre zur Nebenbeschäftigung, und so blieb weder dieses noch jenes in ihrer Hand bestehen.«
Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, worauf das Hauptaugenmerk liegt. Rabbiner Abraham Isaak Kook (1865–1935), der erste aschkenasische Oberrabbiner des Landes Israel, bemerkte, dass nicht die Zeit, die wir einer bestimmten Tätigkeit widmen, entscheidend ist. Vielmehr geht es um unsere Einstellung, darum, was wir wirklich als Mittelpunkt unseres Lebens betrachten.
Ideale religiöse Existenz: Verbindung von Geist und Materie, Heiligem und Weltlichem
Rabbiner Kook wandte sich gegen eine ausschließliche Beschäftigung mit heiligen Angelegenheiten. Er sah in der Verbindung von Geist und Materie, Heiligem und Weltlichem, die ideale religiöse Existenz. Er plädierte für »geistige Arbeit und körperliche Arbeit, heilige Arbeit und weltliche Arbeit, alles zusammen«. Etwa in diesem Sinne äußert sich auch Rabbiner Steven Pruzansky.
Er meint: »Der Dienst an Gott hat viele Formen – darunter das Studium der Tora, die Verteidigung jüdischen Lebens, die Bewirtschaftung des Landes Israel und die ehrliche Versorgung der eigenen Familie.« Insofern müsse der spirituelle Stand eines Menschen nicht zwangsläufig sinken, wenn er einmal keine Zeit zum Torastudium hat, solange »alle Taten um des Himmels willen vollbracht werden«.
Und zum Schluss sei Rabban Gamliel aus den »Sprüchen der Väter« (Pirkej Awot, 2,2) zitiert: »Es ist gut, das Torastudium mit Derech Eretz (Beschäftigung zum Erwerb des Lebensunterhalts) zu verbinden, weil die für beides (erforderliche) Anstrengung keine Gedanken an Sünde aufkommen lässt. Jedes Torastudium aber, das nicht mit einer Arbeitstätigkeit verbunden ist, wird am Ende aufhören und Sünde nach sich ziehen.«