Wahrheitssuche

Tief verwurzelt

»Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten«: Sprüche 3,18 über die Tora Foto: ullstein

Am Beginn dieses Wochenabschnitts offenbart sich G’tt unserem Stammvater Awraham und weist ihn an, seinen Geburtsort zu verlassen und sich auf den Weg in ein unbekanntes Land zu machen. Von diesem Moment an beginnt die Tora, ausführlich über die Herausforderungen, denen sich Awraham im weiteren Verlauf zu stellen hat, zu berichten. Aus der mündlichen Lehre erfahren wir jedoch, dass dies keineswegs der Beginn von Awrahams Weg ist. Wichtige Ereignisse sind in seinem Werdegang dieser g’ttlichen Offenbarung vorangegangen, die im Bericht der Tora keine schriftliche Erwähnung finden.

Awraham war der erste Philosoph, der erkannte, dass die Schöpfung auf einen höheren Ursprung zurückzuführen ist und der Sinn des menschlichen Daseins darin besteht, den Schöpfer als Quelle allen Seins zu erkennen und zu versuchen, sich Ihm zu nähern. Seine Überzeugung begründet er auf so starken gedanklichen Grundsätzen, dass sie zum Fundament einer unabhängigen Denk- und Handlungsweise wurde.

überzeugung Zehn Jahre lang war Awraham aufgrund seiner Weltanschauung gefangen, ohne dass seine Gebete erhört wurden oder ihm sonst irgendein Zeichen g’ttlichen Beistands gegeben wurde. Man stelle sich vor, wie es wäre, für auch nur ein Jahr in Ketten zu liegen, eingesperrt für eine Überzeugung, zu der man allein durch seine eigenen Überlegungen und Schlussfolgerungen gelangt ist. Später war er sogar bereit, sich von den Machthabern in Ur Kasdim ins Feuer werfen zu lassen, um nicht seiner Überzeugung zu widersprechen. Awraham wurde diese Prüfung auferlegt, damit er die Stärke seiner geistigen Ansichten und seiner Weltanschauung unter Beweis stellt. Erst als er im Begriff war, für das, was er als den Sinn des Lebens erkannt hatte, auch sein eigenes Leben zu opfern, intervenierte G’tt zum ersten Mal und rettete ihn aus den Flammen.

Wenn wir dies mit der Opferung Jitzchaks vergleichen, scheint die Herausforderung in Ur Kasdim um vieles schwerer und die dabei bewiesene Charakterstärke sehr viel größer gewesen zu sein. War Awraham doch bereit, sein Leben zu opfern, obwohl es hierfür keinen ausdrücklichen Befehl gab. Um so verwunderlicher scheint es, dass die Tora davon nichts erwähnt, während die Opferung Jitzchaks in allen Einzelheiten beschrieben wird.

erkenntnis G’tt schuf den Menschen in Seinem Ebenbild. Raschi kommentiert: »um zu schlussfolgern und zu begreifen«. Der Mensch entdeckt das Ebenbild G’ttes in der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. In dem Maße, in dem der Mensch alle ihm zur Verfügung stehenden geistigen Kräfte aufwendet, um die Wahrheit zu erkennen, wird sich ihm diese offenbaren. »Werde zu einem Mann!« (1. Könige 2,2) – das ist die Aufforderung, seine geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, um die Welt zu erkennen und zu verstehen. Voraussetzung sind intellektuelle Ehrlichkeit, vollkommene Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft, persönliche Wünsche und Neigungen der Wahrheitsliebe unterzuordnen. »G’tt gibt denen Weisheit, die sich um sie bemühen« (Daniel 2,21).

Im Midrasch heißt es zu dem Vers »Den Weg zum Baum des Lebens zu hüten« (1. Buch Moses 3,24): »Dies lehrt, dass Derech Eretz, der weltliche Weg, der Tora vorangeht.« Der im Vers erwähnte Baum des Lebens verkörpert die Tora. Bezugnehmend auf die Lehre heißt es auch in den Sprüchen 3,18: »Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten«. Der Weg zur Tora hingegen wird von unseren Weisen als der weltliche Weg benannt.

Rabbi Simcha Sissel Siw Broida, der Alte von Kelm, erklärt, dass die Tora voraussetzt, dass der Mensch zunächst seine geistigen und körperlichen Kräfte im Verständnis und Umgang mit der Welt nach den Regeln der Vernunft schult. Erst wenn sich der Mensch so vorbereitet hat, ist es ihm möglich, die g’ttliche Lehre zu empfangen. Die Tora wiederum erhebt sein Bewusstsein dann über die Grenzen des Weltlichen hinaus. Das höhere Bewusstsein, das wir Emuna nennen, ist nicht einfach blinder Glaube, sondern die Gabe, die jenem Menschen gegeben wird, der unter Beweis gestellt hat, dass er sich ganz der Wahrheit verpflichtet.

Baum Awraham fand zur Wahrheit aufgrund eigener geistiger Anstrengung und hatte die daraus resultierenden Ansichten für sich mit solcher Klarheit formuliert, dass er bereit war, um ihretwillen unbestimmt lange Zeit zu leiden und sogar sein Leben dafür zu lassen. Unsere Weisen lehren, dass Awraham so bis zum Baum des Lebens gelangte. Er »befolgte die gesamte Tora, bevor sie dem jüdischen Volk gegeben wurde« (Kidduschin, 82a).

Die Tora ist g’ttlichen Ursprungs. Der Weg zum Baum des Lebens führt wohl durch diese Welt, er selbst jedoch steht jenseits dieser Welt gepflanzt. Die Tora beginnt aus diesem Grund auch erst von Awraham zu berichten, nachdem ihn sein Weg bereits bis an die Grenze dieser Welt geführt hat. Die Anstrengungen, die dafür aufgebracht wurden, sind nicht Teil der schriftlichen Tora, sie gehen ihr voran. Der daraus gewachsenen Emuna, dem g’ttlichen Bewusstsein, folgte Awraham dann auch später bei der Opferung Jitzchaks, obwohl es seinem eigenem Verständnis vollkommen widersprach.

Der Weg, den Awraham zuerst allein beschritt, führte seine Kinder letztendlich zum Berg Sinai, wo dem jüdischen Volk die Tora gegeben wurde. Die Tora ist in alle Sprachen der Welt übersetzt und es ist jedem möglich, sie zu studieren. Das g’ttliche Wort und die darin enthaltene Wahrheit wirklich zu empfangen und sich anzueignen, ist jedoch auch weiterhin davon abhängig, wie sehr man sich darum bemüht und sich in seiner Wahrheitssuche verausgabt. In Psalm 1,2 lesen wir: »Und mit seiner Lehre beschäftigt er sich Tag und Nacht«. Die Schulung im Derech Eretz, dem Weg kompromissloser Wahrheitssuche und dem bewussten Umgang mit der Welt, bleibt dabei auch für uns die Voraussetzung zur Entwicklung unserer persönlichen Emuna.

Der Autor ist Mitglied des Edgware Kollel in London.

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