Ein Großteil des Toraabschnitts dieser Woche, Paraschat Ha’asinu, besteht aus einem Lied, einer sogenannten Schira. Immer wenn in der Tora ein Lied erklingt, ist es in der Regel ein Ausdruck des Gʼtteslobs: ein Dank für Haschems Größe, Seine Güte und Seine wunderbare Führung der Welt. Ein Lied spiegelt Harmonie wider.
Man kann es sich wie ein Orchester vorstellen: Jeder Musiker, jede Stimme, jede Note hat ihren Platz. Wenn alle dem Dirigenten folgen, entsteht ein stimmiges, erhebendes Kunstwerk. Doch sobald ein einzelner Musiker beschließt, sein eigenes Stück zu spielen, gerät die gesamte Harmonie ins Wanken. Aus dem schönen Klang wird Chaos.
Genauso verhält es sich mit einer Schira in der Tora: Sie symbolisiert spirituelle Harmonie – eine Welt, in der jeder Mensch seinen Platz findet, das Wohl des Ganzen im Blick behält und sich in die gʼttliche Melodie einfügt.
Doch in Ha’asinu ist es anders. Das Lied wendet sich nicht direkt an Haschem, sondern als ernste Mahnung und Zurechtweisung an das jüdische Volk.
Haben die Israeliten bis zu diesem Zeitpunkt nicht bereits genug Mahnungen von Mosche erhalten? Das ganze Buch Dewarim, das 5. Buch Mose, ist voller Ermahnungen, Appelle und Warnungen. Was also unterscheidet dieses Lied von den bisherigen Worten der Zurechtweisung?
Rabbiner Jechezkel Sarna (1890–1969), der Leiter der berühmten Slabodka-Jeschiwa, gibt darauf eine bemerkenswerte Antwort. Bislang, so erklärt er, waren die Mahnungen streng und hart. Sie betonten Belohnung und Strafe, sowohl für den Einzelnen als auch für das Volk als Ganzes, zeichneten klare Konsequenzen und machten deutlich, dass das Überleben des Volkes nur durch Treue zum Bund gesichert ist.
Das Lied in Ha’asinu blickt zurück und zugleich nach vorn
Doch dieses Lied in Ha’asinu blickt zurück auf die Größe, aus der wir kommen, und zugleich nach vorn auf unsere Zukunft. Es ist weniger Drohung als vielmehr Erinnerung: »Seht, wie groß ihr einst wart! Erkennt, welches Potenzial in euch steckt! Vergesst nicht, diesem Potenzial gerecht zu werden.«
Damit verändert sich der Charakter der Mahnung grundlegend. Sie gründet sich nicht auf Angst, sondern vielmehr auf Wertschätzung.
Jeder Mensch kennt beide Arten von Motivation. Manchmal handeln wir aus Angst, weil wir müssen, weil wir Konsequenzen fürchten oder weil Rechnungen zu bezahlen sind. Doch es gibt auch eine andere Art: Wir handeln, weil wir in einer Sache Wert und Sinn erkennen. Wer mit Leidenschaft an einem Projekt arbeitet, kann sich darin verlieren – nicht weil er gezwungen ist, sondern weil er weiß, wie bedeutsam es ist.
So ist es auch im spirituellen Leben. Manche gehen in die Synagoge, weil sie sich verpflichtet fühlen, andere, weil sie darin einen tiefen Wert erkennen. Äußerlich verrichten beide dieselbe Handlung, doch die innere Haltung ist grundverschieden.
Gerade jetzt, nach den Hohen Feiertagen, ist dieser Gedanke besonders relevant. Rosch Haschana und Jom Kippur sind Tage der Selbstprüfung, der Reue und des Neubeginns. Viele Menschen nehmen sich in dieser Zeit gute Vorsätze und messen sich kritisch an ihren eigenen Erwartungen. Doch dieser Prozess birgt eine Gefahr: dass man beginnt, sich selbst abzuwerten.
Natürlich sollen wir bereuen. Aber wir dürfen uns dabei nicht selbst verachten
Natürlich sollen wir bereuen. Natürlich sollen wir uns bemühen, besser zu werden. Aber wir dürfen uns dabei nicht selbst verachten. Kein Mensch ist perfekt. Jeder trägt von Haschem gegebene Herausforderungen, Schwächen und Eigenschaften in sich, an denen er arbeiten soll. Mal gelingt ein Schritt nach vorn, manchmal rutscht man zurück. Das gehört untrennbar zum Menschsein.
Genau an dieser Stelle setzt die Lehre der Talmudhochschule von Slabodka an. Ihr pädagogischer Ansatz war geprägt von »gesunder Größe« – von dem Bewusstsein, dass der Mensch von Natur aus Würde, Stärke und Potenzial besitzt. Man soll sich selbst achten und lieben. Nicht maßlos: Es gilt darauf zu achten, dass man nicht selbstverliebt wird und beginnt, narzisstische oder egoistische Züge zu entwickeln. Wer sich zu sehr auf sich selbst fokussiert, verliert leicht das Wohl des Umfelds aus den Augen. Man soll sich selbst lieben und wertschätzen in einer gesunden Balance. Denn nur, wer sich selbst wertschätzt, kann wirklich wachsen.
Besonders wirkungsvoll sind Lob und Zuspruch, wenn sie in Gegenwart des Partners ausgesprochen werden
Ein anschauliches Beispiel dafür findet sich in einem jüdischen Hochzeitsbrauch. Es ist üblich, dem Brautpaar viele Komplimente zu machen. Der Talmud betont ausdrücklich die Bedeutung dieses Brauchs. Besonders wirkungsvoll sind Lob und Zuspruch, wenn sie in Gegenwart des Partners ausgesprochen werden. Einer der Gründe dafür ist, dass es nicht bloß höfliche Floskeln sind, sondern echte Botschaften. Indem man dem jungen Paar seine Stärken und Potenziale vor Augen führt, hilft man ihm, diese auch bewusst zu leben. Denn nur wer sein Potenzial kennt, kann beginnen, es zu entfalten.
Diese Einstellung ist heute wichtiger denn je. Viele Menschen empfinden, dass sie ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden. Manche verlieren den Blick für ihre Fähigkeiten, ihr inneres Potenzial – und damit auch die Motivation, sich weiterzuentwickeln. Doch Jom Kippur lehrt uns: Reue bedeutet nicht Selbsthass. Wir bereuen nicht, weil wir uns verachten, sondern weil wir uns lieben.
Wer Sport treibt, sollte dies nicht tun, weil er seinen Körper hasst, sondern weil er ihn liebt. Wer an sich arbeitet, tut dies nicht, weil er wertlos wäre, sondern weil er unendlich wertvoll ist. Diese Einstellung ist nicht nur gesünder, sie ist auch nachhaltiger und führt langfristig weiter.
Genau das ist die Botschaft von Ha’asinu. Die Tora ruft uns auf, unsere Herkunft und unser Potenzial niemals aus den Augen zu verlieren. Denn nur wer seine Würde und seine Möglichkeiten erkennt, kann den eigenen Lebensweg verstehen – und daraus Kraft schöpfen, sich zu verbessern! Schritt für Schritt, mit Freude, mit innerer Harmonie und mit einem Lächeln im Gesicht.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
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Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Newo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52