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Liebe deinen Nächsten ...

Ahawa heißt Liebe: Skulptur im Israel-Museum in Jerusalem Foto: Flash 90

Liebe ist für Jugendliche ein verführerisches Wort. Als Kinder haben wir alle sehr oft die Worte gehört (und je öfter wir sie gehört haben, desto besser): »Ich liebe dich« oder »Wir lieben dich«. Mutter, Vater , Oma, Opa, große Brüder – alle wandten sich mit einem Gefühl der Zuneigung an das kleine Kind. Jede Stufe seiner Entwicklung wurde von den Erwachsenen gewürdigt und gelobt: Wenn das Kind begann zu laufen, wenn es zwischen Farben unterscheiden konnte, wenn es in der Schule gut lernte – bei jedem Schritt hörte es von allen: »Wir lieben dich!«

Aber wenn wir ins Teenageralter kommen, erwarten die Eltern und die Lehrer auf einmal von uns, alles, was sie uns bisher beigebracht haben, auf eigene Faust umzusetzen. Das ist eine persönliche Verantwortung für das ganze Leben. Es wird erwartet, dass wir in der Schule erfolgreich sind, dass wir unser Zimmer aufräumen, auf unsere kleinen Geschwister aufpassen. Alles, weil wir »schon groß« sind ...

Sofort nach der Barmizwa oder Batmizwa beginnen wir, daran zu denken, welche Gebote wir halten wollen – und welche nicht. Sollen wir den Schabbat halten? Sollen wir an Jom Kippur fasten? Sollen wir zu McDonald›s gehen oder lieber nicht? Auf all das gibt es eine Antwort. Denn jeder von uns weiß, was koscher ist und was nicht, was am Schabbat erlaubt und was verboten ist. Es ist allein eine Frage der persönlichen Entscheidung, woran ich mich halte und woran nicht.

Wort
Bei der Liebe ist es ein bisschen schwieriger. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – das ist ein extrem wichtiges Gebot der Tora (3. Buch Mose 19,18). Doch was bedeutet Liebe? Bis jetzt war das nur ein Wort, das innerhalb der Familie benutzt wurde. Aber wie setze ich als Jugendlicher Liebe um? Muss ich meinen Freunden denn sagen, dass ich sie liebe? Ist Liebe vielleicht nur ein Wort? Das kann nicht sein. Nein, es kann nicht sein, dass Rabbi Akiwa (einer der größten Rabbiner, die es je gab) sagt, dass Liebe eine extrem wichtige Mizwa ist – wenn man dafür nur die drei Worte »Ich liebe dich« sagen muss, um sie erfüllen! Denn das sind doch nur Worte: »Ich liebe dich« oder: »Ich liebe dich gar nicht«. Überhaupt, was habe ich eigentlich mit meinem Nächsten zu tun?

Die Tora sagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das bedeutet, ich soll meinen Freund oder meine Freundin so sehr lieben wie mich selbst. Aber ist es denn erlaubt, sich selbst zu lieben? Ist das nicht egoistisch?

Außerdem haben viele von uns Freunde, die sich selbst überhaupt nicht lieben. Eine Freundin will ihre Nase durch eine Operation richten lassen, weil sie die Form ihrer Nase nicht liebt. Ein Freund macht eine Diät, weil er findet, dass er zu dick ist. Und wieder ein anderer aus der Klasse hat angefangen zu rauchen, weil alle anderen wegen seiner schlechten Noten auf ihm herumhacken.

Einmal habe ich von meinem Rabbiner eine Geschichte über Hillel den Älteren gehört. Hillel war zu Zeiten der Gemara, des Talmud, ein sehr wichtiger Gelehrter. Eines Tages kam ein überaus listiger Nichtjude zu ihm und wollte zum Judentum konvertieren.

Bein Zuerst aber ging er zu Hillels Gegenspieler Schammai und bat den Gelehrten, ihm die ganze Tora beizubringen, während er auf einem Bein stand – das heißt, er wollte einen Schnellkurs. Schammai war ein entschlossener Mann, der diese herabwürdigende Bitte entschieden ablehnte.

Danach ging besagter Nichtjude zu Hillel dem Älteren. Der sagte ihm: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu – das ist die ganze Tora, und alles andere ist Auslegung dieses Prinzips. Hillel der Ältere ließ den Mann zum Judentum übertreten. aber danach sagte er ihm: Nun musst du alles lernen, was in der Tora steht.

Hillel und Rabbi Akiwa dachten beide dasselbe über das Prinzip »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, aber sie erklärten es auf unterschiedliche Weise. Hillel betonte, dass man seinen Nächsten nicht aktiv lieben muss.

Natürlich gibt es Menschen, denen wir uns sehr nahe fühlen und die wir wirklich lieben. Aber die Liebe zu jedem Menschen beginnt damit, dass wir jedem die Ehrerbietung entgegenbringen, die er verdient. Das heißt: Man zeigt einem Freund, der schlecht in der Schule ist, nicht seine Verachtung. Man verletzt niemanden wegen seines Aussehens, egal, ob man ihn zu dick oder zu dünn findet, zu klein oder zu zu groß oder einfach nicht so gut aussehend.

schwachpunkte
Man soll jeden Menschen so akzeptieren, wie er ist. Genauso, wie wir nicht wollen, dass andere Menschen uns etwas antun, das wir hassen, und wir nicht wollen, dass andere uns wegen unserer Schwächen angreifen, sollen wir auch nicht die Schwachpunkte der anderen ins Visier nehmen.

Es gibt eine Mischna, die erklärt, welche Art von Liebe die richtige ist. Dort steht, dass diese Liebe von nichts abhängt. Manchmal lieben wir jemanden, weil wir daraus Vorteile ziehen können. Wir lieben jemanden wegen seines Geldes, wir lieben einen Freund, weil er uns bei den Hausaufgaben hilft, oder weil er uns im Kino zu Popcorn einlädt.

Doch echte Liebe bedeutet, jemanden um seiner selbst willen zu lieben. Nur solche Liebe ist in der Lage, lange zu halten. Echte Liebe zeigt sich nicht dann, wenn alle in Partystimmung sind und alles im Leben rund läuft. Echte Liebe bedeutet, einem Freund zu helfen, auch wenn er traurig ist und es ihm nicht gut geht.

egoisten Übrigens, im Judentum gibt es ein interessantes Gesetz. Es besagt, dass das eigene Leben wichtiger ist als das Leben des anderen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir Egoisten sein sollen. Aber es bedeutet auf jeden Fall, dass der Mensch sich selbst lieben darf – er muss sich sogar selbst lieben. Ich darf mich also darüber freuen, wenn ich Erfolg habe, ich soll meine Familie lieben, wie sie ist, und mich nicht für sie schämen, und ich soll auch meinen Körper so akzeptieren, wie er ist, und mich nicht die ganze Zeit mit TV-Topmodels vergleichen.

Sich selbst zu lieben, bedeutet aber nicht, dass ich arrogant werde und allen dauernd erzählen muss, wie großartig ich bin. Es bedeutet, sich selbst und seine Freunde zu achten. Jeder von uns hat verschiedene Ebenen. Jeder von uns hat gute und schlechte Seiten. Aber um Freunde zu haben, ist es wichtig, dass wir uns auf die guten Seiten konzentrieren. Genau das bedeutet das Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« oder »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.«

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Dortmund und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

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