Adin Steinsaltz

»Let my people know«

Rabbiner Adin Steinsaltz sel. A. (1937–2020) Foto: dpa

Adin Steinsaltz

»Let my people know«

Mit der Übersetzung ins Neuhebräische hat der Rabbiner sel. A. den Talmud demokratisiert

von Chajm Guski  27.08.2020 09:16 Uhr

Mit Sicherheit hat Avraham Steinsaltz von der Revolution geträumt. Als Kommunist und Kämpfer trat er jedenfalls dafür ein. Er kämpfte 1936 in Spanien gegen die Faschisten. Sein Sohn Adin, der 1937 in Jerusalem zur Welt kam, sollte eine Revolution der ganz anderen Art anzetteln: Trotz des weltlich orientierten Elternhauses sollte er die Welt des Talmuds grundlegend verändern und auch demokratisieren.

Vielleicht wurde der Grundstein dafür schon recht früh gelegt, denn der Vater wollte, dass sein Sohn die Grundlagen des Judentums kennenlernt. Und so wurde der junge Adin Steinsaltz neugierig auf die jüdische Tradition und ihre Texte – und begann bereits als Teenager ein religiöses Leben als orthodoxer Jude.

STUDIUM Doch wandte er sich nicht ausschließlich religiösen Studien zu. Parallel zum Lernen an verschiedenen Jeschiwot der Chabad-Lubawitsch-Bewegung studierte er Chemie und Physik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Nach dem Abschluss seiner Studien wurde er mit nur 24 Jahren Schulleiter – der jüngste Israels.

Mit 28 Jahren wurde aus dem Sohn des Revolutionärs dann, vielleicht unbeabsichtigt, ein Revolutionär anderen Typs. Dabei wirkte der Rabbiner Adin Steinsaltz nicht kämpferisch, sondern selbstironisch, konzentriert und fleißig. 1965 begann er eine kommentierte Übersetzung des hauptsächlich auf Aramäisch verfassten Talmuds – ins moderne Hebräisch.

Doch seine Übersetzung war viel mehr als nur eine Übertragung. Steinsaltz versah den gesamten Text mit einer Vokalisierung, fügte kurze Biografien und Äußerungen der Talmud-Weisen hinzu, ergänzte Erklärungen zum Beispiel zu vorkommender Flora und Fauna, machte halachische Diskussionen nachvollziehbar.

Mit dem Umfang seines Talmud-Kommentars hat Steinsaltz sogar Raschi überflügelt.

Dabei fügte er erklärende Passagen in den übersetzten Text ein. Diese Vorgehensweise war ungewöhnlich: Die Übersetzung wurde fett gedruckt, der begleitende Text in normaler Schrift. Die Leser oder Lernenden lasen den Text so, als würde er ihnen von einem Lehrer erklärt.

Damit war er nun auch Menschen zugänglich, die sich nicht schon länger mit ihm beschäftigten und nicht unbedingt das Hintergrundwissen eines Jeschiwastudenten mitbrachten. Denn den Text des Talmuds kann man sich vielleicht linguistisch erschließen, aber ohne zusätzliche Kenntnisse und ein Begreifen der Konzepte wird man ihn nicht »verstehen«.

GRIFFE So drückte es auch Rabbiner Mordechai Elijahu aus. Er war von 1983 bis 1993 sefardischer Oberrabbiner Israels. 1993 schrieb er: »Nur eine intellektuelle Elite, die aus herzlich wenigen besteht, und jene, die in Jeschiwot studieren, können heute den Talmud lernen und verstehen, was er sagt – und obwohl wir Raschi haben, wird er nicht von allen verwendet. Aber der große Gelehrte Rabbiner Adin Steinsaltz ist gekommen und hat Griffe an der Tora angebracht, die es erlauben, dass der Talmud studiert werden kann, sogar durch den einfachen Mann.«

Raschi (1040–1105), den Rabbiner Elijahu erwähnte, gilt als der bedeutendste Kommentator der Tora – und dennoch hat er es nicht geschafft, den gesamten Talmud zu kommentieren. Der Raschi-Kommentar zum Traktat Baba Batra wird auf Blatt 29a von der Information unterbrochen, dass der folgende Kommentar von Schmuel ben Me’ir Schmuel, einem Enkel Raschis, verfasst wurde. In anderen Traktaten (etwa Nedarim und Makkot) stammen ebenfalls nicht alle Kommentare in der »Raschi-Spalte« von Raschi. Rabbiner Steinsaltz hat ihn diesbezüglich also überflügelt.

Mit 28 Jahren wurde aus dem Sohn des Revolutionärs ein Revolutionär anderen Typs.

Und weil wir von einem Revolutionär sprechen, ist klar, dass er sich nicht nur Freunde gemacht hat mit seinem Ansatz, den Talmud allen zu öffnen – auch Frauen. Das Besondere daran war unter anderem, dass seine Gegner von beiden Polen des religiösen Spektrums kamen – sowohl aus der Reformbewegung als auch aus der Ultraorthodoxie

Rabbiner Elasar Menachem Schach, ein einflussreicher charedischer (ultraorthodoxer) Rabbiner, ging so weit, zu schreiben, dass Rabbiner Steinsaltz ein Häretiker sei, und verfügte einen Bann über verschiedene seiner Bücher. Eines davon war eine Einführung in den Talmud für den Leser ohne Grundkenntnisse, Talmud laKol (Deutsch: »Talmud für jedermann«).

LAYOUT Die Herangehensweise von Rabbiner Steinsaltz wurde in den Folgejahren aus diesem religiösen Spektrum dementsprechend kritisiert. Unter anderem wurde das Abweichen vom bekannten »Layout« der Talmudblätter bemängelt.

1990 veröffentlichte der Verlag Artscroll mit dem Traktat Makkot dann eine übersetzte und kommentierte Talmud-Ausgabe, die aus der charedischen Welt selbst kam. Sie folgte in vielen Punkten den Ideen von Rabbiner Steinsaltz: eine Übersetzung in fetter Schrift, ein vokalisierter Text und zahlreiche Abbildungen und Erklärungen.

Kritik an Steinsaltz kam aus der Ultraorthodoxie, aber auch aus der Reformbewegung.

Die Revolution hatte also auch Auswirkungen auf jene, die sich nicht von ihr erfassen ließen. Auf der anderen Seite des religiösen Spektrums kritisierte Reformrabbiner Jacob Neusner das Werk von Steinsaltz auf mehreren Ebenen. Neusners eigene Übersetzungen des Talmuds waren wiederum Ziel der Kritik anderer Gelehrter. Für Steinsaltz sprach sich der Lubawitscher Rebbe, Menachem Mendel Schneerson, aus, mit dem Steinsaltz im Austausch stand.

Auch Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986), seinerzeit eine der größten halachischen Autoritäten, schrieb 1983, die Übersetzung mit Kommentar sei hilfreich für diejenigen, die sich bereits mit der Materie auskennen, aber auch hilfreich für jene, die »gerade damit beginnen«, und sei ihnen dabei behilflich, »in das Meer des Talmuds einzutauchen«.

Seit Steinsaltz ist das »Meer des Talmuds« fast schon sprichwörtlich geworden. Rabbiner Steinsaltz selbst ließ sich nicht in akademische Gefechte zu seinem Werk ein – später nannte er die Zeit der Anfeindungen lediglich eine »ziemlich unangenehme Zeit« –, sondern arbeitete weiter und beendete sein Werk nach stolzen 45 Jahren. Übersetzungen in die englische, französische, russische und spanische Sprache erschienen bereits während der Arbeiten an der hebräischen Gesamtausgabe. Seit 2017 sind die englische Übersetzung und ein hebräischer Kommentar frei über das Projekt sefaria.org verfügbar. Damit steht der Talmud tatsächlich jedermann offen.

Talmudblatt Auch das Steinsaltz Center veröffentlicht täglich das Talmudblatt des Tages zum Download auf Hebräisch und Englisch und wird damit dem Anspruch des Center und dem von Rabbiner Steinsaltz, »Let my people know – lass mein Volk wissen«, gerecht. Das Wissen wurde somit tatsächlich »demokratisiert« und ist ohne Schranken sinnvoll nutzbar.

Er änderte seinen Namen in Even Israel und gründete Jeschiwot auch in Russland.

Als wäre das nicht genug, übersetzte Rabbiner Steinsaltz den vollständigen Tanach in der gleichen Art, in der er den Talmud kommentiert hat. Eine neuhebräische und eine englische Ausgabe sind verfügbar, aber auch das Buch Tanja, einer der Gründungstexte der Chabad-Bewegung, die Mischne Tora von Maimonides oder ein Kommentar zur Pessach-Haggada. Zahlreiche Bücher wurden Bestseller, etwa sein Werk über die Kabbala, Die dreizehnblättrige Rose, oder sein bereits erwähntes Werk Talmud für jedermann. In diesen Tagen läuft die Publikation seines Mischna-Kommentars über das Steinsaltz Center in Zusammenarbeit mit dem Koren-Verlag.

Steinsaltz, der seinen Familiennamen in Even Israel geändert hatte, gründete Jeschiwot in Russland und in Israel. In der Jeschiwa von Tekoa, deren Rosch er war, lehrte er in den letzten Jahren. 2016 gab er der Zeitschrift »Israelim« eines seiner letzten Interviews, bevor ihm ein Schlaganfall seine Stimme nahm.

Seit Steinsaltz ist das »Meer des Talmuds« fast schon sprichwörtlich geworden.

In diesem Interview bedauerte er, nicht alles geschafft zu haben, was er sich vorgenommen hatte: »Mich beunruhigt, was von mir in Erinnerung bleiben wird. Ich habe etwas getan, aber ich habe nicht genug getan, ich habe nicht einmal einen Bruchteil der Dinge getan, die ich tun wollte.«

Mit 83 Jahren ist Adin Steinsaltz am 7. August in Jerusalem gestorben. Er hinterlässt nicht nur eine trauernde Familie, sondern viele Schülerinnen und Schüler und eine noch größere Anzahl von Menschen, denen er die Tür zur Tradition geöffnet hat.

Es ist keine Frage, dass sich Rabbiner Steinsaltz in das kollektive Gedächtnis des jüdischen Volkes eingeschrieben hat und sein Name mit dem Talmud verbunden bleiben wird. Die Revolution geht weiter.

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