Schabbat

»Komm herauf, Brunnen!«

Laut der Mischna (Awot 5,9) gehören Brunnen zu den zehn Dingen, die der Ewige in der Abenddämmerung des sechsten Tages schuf. Foto: Thinkstock

Schabbat

»Komm herauf, Brunnen!«

Warum die Israeliten am Ende der Wüstenwanderung ein Lied anstimmten

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  22.06.2015 17:10 Uhr

Zwei Lieder sangen die Kinder Israels in der Wüste. Das erste, als sie aus Ägypten zogen, und das zweite, als sie am Ende ihres Weges angekommen waren, an der Grenze zum Land Moab, kurz vor dem Eintritt ins verheißene Land.

Vom ersten Lied heißt es: »Damals sang Mosche mit den Kindern Israels dieses Lied dem Ewigen« (2. Buch Mose 15,1). Über das zweite lesen wir: »Damals sang Israel dieses Lied« (4. Buch Mose 21,17). Im zweiten Lied fehlen Gottes und Mosches Namen. Das erste Lied sangen Mosche und die Kinder Israels, nachdem sie ihren Weg trockenen Fußes durch das wunderbar von Gott geteilte Meer genommen hatten. Es preist Seine große Macht und Seine atemberaubenden Taten.

Das zweite Lied gibt uns Rätsel auf. Wir wissen nicht, was es uns sagen will und warum es überhaupt überliefert wird. Gottes Name wird in ihm nicht erwähnt, und Mosche ist nicht unter den Sängern.

Wurde dieses Lied wegen eines Wunders angestimmt, das sich an diesem Brunnen ereignet hatte? Oder handelt es sich um ein Lob- und Danklied, das die Israeliten sangen, nachdem sie diesen Brunnen als Geschenk erhalten hatten? Wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage: Warum sangen die Kinder Israels dieses Lied erst am Ende ihres Weges?

Bereschit In der Mischna Awot (5,9) lesen wir, dass Brunnen zu den zehn Dingen gehören, die am Freitag während der Abenddämmerung erschaffen wurden. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Brunnen der Mischna und dem Brunnen in unserem Abschnitt?

Rabbi Schimon sagt: »Nicht jeder, der ein Lied singen will, kann es tun. Nur derjenige, der ein Wunder erlebt hat, singt ein Lied, und er weiß, dass man ihm seine Sünden verzeiht, und er am Ende eine neue Schöpfung wird.« Wenn es sich so verhält, möchten wir fragen: Was war das für ein Wunder, das Israel veranlasste, dieses Lied zu singen? Welche Sünde hatten die Israeliten begangen, die Gott ihnen verzieh?

Wir kommen einer Antwort näher, wenn wir uns damit beschäftigen, in welchem Kontext unser Lied steht. Da lesen wir, dass die Israeliten auf ihrem Weg ins verheißene Land durch das Gebiet der Amoriter kommen. Sie mussten den Fluss Arnon überwinden, der zwischen zwei Gebirgszügen fließt. Die Amoriter planten, sich in den Höhlen der Berge zu verstecken und von dort Steine auf die Israeliten zu werfen und sie so während ihrer Flussdurchquerung zu töten.

Doch der Ewige kam den Feinden Israels zuvor, noch bevor sein Volk überhaupt an Ort und Stelle war: Er sorgte kurzerhand dafür, dass sich einer der Berge erhob und auf die Seite des Landes Moab versetzte. Das brachte den Amoritern den Tod. Danach fragte sich Gott, wer dieses Wunder den Kindern Israels erzählen wird.

Raschi (1040–1105) erklärt: Die Worte »Ali be’er – steig auf, o Brunnen« bedeuten »Ha’ali be’er – bring das Wasser hoch!« (4. Buch Mose 21,17). Gott erwählte den Brunnen, um sein Wunder den Israeliten kundzutun. Nachdem sie den Arnon durchquert hatten, kehrten die Berge an ihren Platz zurück, und der Brunnen kam zum Fluss und spülte das Blut und die Leichen der Amoriter nach oben. Da erst entdeckten die Kinder Israels, was für sie geschehen war. Als sie das sahen, sangen sie: »Ali be’er! – Bring nach oben!«.

Exodus Jetzt erkennen wir auch die Ähnlichkeit zwischen dem ersten und dem zweiten Lied. Beim Auszug aus Ägypten geschah die Erlösung durch das Ertrinken des Pharaos und seines Heeres in den Fluten des Roten Meeres. Hier erklingt ein Lob- und Danklied über das Wunder der Errettung aus den Händen der Amoriter, die den Kindern Israels den Einzug ins verheißene Land verwehren wollten. Wieder hatte Gott ihnen in Todesgefahr beigestanden, und der Brunnen offenbarte diese Wundertat des Ewigen am Arnon.

In Tehilim 129,1 heißt es dazu: »Lied der Emporgänge. Viel haben sie mich angefeindet von meiner Jugend an, so sage Israel.« Und weiter steht geschrieben: »So soll, wenn viele Leiden und Drangsale Israel treffen, dies Lied, das nie aus dem Mund seiner Nachkommen schwinden wird, vor ihm als Zeuge aussagen, denn ich kenne sein Sinnen, mit dem es schon heute umgeht, noch bevor ich es in das Land bringe, das ich seinen Vätern zugeschworen habe« (5. Buch Mose 31,21). Gott verheißt hier: Wenn Israel in Not gerät, wird Er sie retten, dann werden sie Ihm ein Lied singen.

Unsere Weisen sagen, das Wunder des Brunnen sei wie ein mitwandernder Fluss anzusehen, der das Volk Israel 40 Jahre lang auf seinem Exodus durch die Wüste begleitete, seinen Mund auftat und ihm Wasser spendete. Am Ende ihres Weges wurde er als Brunnen in der Wüste platziert. In unserem Abschnitt treffen wir nun auf die Danksagung für das Wunder aus diesem Brunnen.

Gnade Man kann sich fragen, warum die Kinder Israels nicht schon während der 40 Jahre ihrer Wüstenwanderung auf die Idee kamen, von dieser Erscheinung der mitwandernden Gnade Gottes zu singen. Die Weisen antworten: Als Mirjam, die Schwester von Mosche und Aharon, starb, verschwand der Brunnen, und nur wegen Mosches Verdiensten kehrte er zurück.

Das Volk Israel sang auch, um seinen Anführer und sein Vorbild zu ehren: »Singt ihm zu!« Den Israeliten war durchaus bewusst, dass sie alle erhaltenen Gottesgeschenke – das Manna, den Brunnen, die Wolken- und die Feuersäule – letztlich Mosche zu verdanken hatten.

»Damals sang Israel dies Lied: »Steige auf, o Brunnen, singt ihm zu!« (4. Buch Mose 21,17). Ein weiteres unterscheidendes Charakteristikum dieser Wasserstelle gegenüber herkömmlichen Brunnen besteht darin, dass er nicht von Sklaven, sondern von den Fürsten des Volkes gebaut wurde.

Im Talmud (Traktat Nedarim) wird der Hinweis gegeben, dass das Brunnenlied eine Danksagung für die Tora enthält. Die Tora wird mit Wasser verglichen, ohne das kein Leben existieren könnte. Genauso gibt es ohne die sich in unsere Herzen und Gedanken verströmende Tora kein wirkliches Leben für den Menschen. Wer die Weisungen Gottes lernt, wird selbst zu einem lebensspendenden Fluss, der nicht versiegt. Das Wasser aus dem Brunnen der Tora schenkt dem Menschen Reinheit und Heiligung. Wer aus diesem Brunnen trinkt, aus dessen Innerem werden Ströme lebendigen Wassers quellen.

Der Autor ist Rabbiner des Egalitären Minjans Hamburg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Chukkat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mirjam und wird dort begraben. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht auf die Art und Weise, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Sie sind des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1

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