Frau Rabbinerin Klapheck, Sie sind seit 2023 Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK). Wie blicken Sie auf Ihre erste Amtszeit zurück?
Ich übernahm das Amt in einer Zeit der Konflikte, die bis heute wirken. Walter Homolka hatte sich nach Missbrauchsvorwürfen aus der Leitung des liberalen Abraham Geiger Kollegs zurückgezogen. In der Folge spalteten sich die Liberalen an der Frage, wie man mit diesem Fall umgehen sollte. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin übernahm die Trägerschaft des Kollegs, der Zentralrat gründete die Nathan Peter Levinson Stiftung, unter deren Dach eine neue liberale Rabbinatsausbildung entstand. Das ist ein Konflikt, der natürlich die ARK erschütterte. Es hat sich eine liberale Rabbinervereinigung gegründet, die sozusagen eine innere Opposition bildet und anfangs sogar meinen Rücktritt forderte.
Trotzdem wurden Sie nun erneut zur Vorsitzenden gewählt.
Das deute ich als Willen, zusammenzubleiben. Es gibt einfach zu viele gemeinsame Aufgaben: 2023 war zum Beispiel die Nachfrage nach einem vereinfachten Übertritt für patrilineare Juden groß. Wir haben da die Zugänge verbessert, und das ist angekommen. Wir setzen uns auch für die Arbeitsbedingungen unserer Mitglieder in den Gemeinden ein, zum Beispiel die Frage, wie wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Rabbinerinnen verbessern können. Eine andere Baustelle für die Zukunft sind Schulbücher für den liberal-jüdischen Religionsunterricht. Auch arbeiten wir weiter am SchazMaz-Programm, das uns die Möglichkeit bietet, in kleine liberale Gemeinden, die sich das nicht leisten können, einen Rabbiner oder eine Rabbinerin zu schicken. Meine Wiederwahl bedeutet für mich, diese inhaltliche Kontinuität fortzusetzen. Ich will, dass wir innerhalb eines Judentums, das in Deutschland vom Zentralrat vertreten wird, eine stützende und starke liberale Stimme bilden. Wir wollen sichtbarer werden und mehr Inhalte produzieren statt Konflikte.
Neben Ihnen wurde Nils Ederberg im Vorstand bestätigt. Neu ist, dass Daniel Katz statt Andreas Nachama als Dritter hinzukommt. Was bedeutet dieser Wechsel?
Rabbiner Katz amtiert in der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Köln, die der Union progressiver Juden angehört, die wiederum dem Geiger-Kolleg nahesteht. Rabbiner Ederberg und ich sind im Kuratorium der Nathan Peter Levinson Stiftung. Man könnte also sagen, dass hier Vertreter beider Lager gewählt wurden. Ich sehe es als Zeichen, dass die Mehrheit einen vorsichtigen Wandel möchte. Wir befinden uns aber immer noch auf einer Gratwanderung.
Wo sehen Sie in dem Konflikt Ihre Rolle als Vorsitzende?
Die ARK ist nicht das Gremium, das allein den Konflikt über die Zukunft der Rabbinatsausbildungen lösen kann. Die Entscheidungen, beispielsweise über die Finanzierung, werden woanders getroffen und womöglich vor Gericht. Das sind Dinge, die nicht primär in unserer Macht stehen. Als Vorsitzende habe ich jedoch ein Interesse daran, dass diejenigen, die am Abraham Geiger Kolleg studiert haben, gerade studieren und ordiniert werden, Mitglieder der Allgemeinen Rabbinerkonferenz werden und bleiben, dass wir da Brücken für die Zusammenarbeit bauen und uns nicht in gegenseitig bekämpfende Lager fraktionieren. Es ist vielmehr wichtig, in der real existierenden jüdischen Wirklichkeit eine liberale Option anzubieten, die Zukunftsfähigkeit ausstrahlt. Mit liberal meine ich hier alle nicht-orthodoxen Strömungen. Unter unseren Mitgliedern sind das Reformjudentum, das sich heute als progressives Judentum bezeichnet, aber auch Masorti sowie Jewish Renewal und Rekonstruktionismus vertreten.
Was bedeutet diese liberale Option heute?
Tatsächlich hat sich die Belastung seit dem 7. Oktober 2023 durch eine wachsende Stimmung gegen Israel und den lauter werdenden Antisemitismus enorm erhöht. Mich bedrücken außerdem die Angriffe auf die Demokratie. Umso wichtiger ist es mir, dass wir als rabbinisches Gremium ein jüdisches Selbstbewusstsein stärken. Dass wir uns nicht nur vom Antisemitismus her als Juden verstehen, sondern dass wir die traditionellen Inhalte in einer modernen Form weitergeben, um Jüdinnen und Juden aller Generationen zu stärken. Der Auszug aus Ägypten ist der Weg in die Freiheit. Und die Angriffe der Hamas, aber auch der Hisbollah und des Iran sind gegen unsere Freiheit gerichtet. Es ist unsere Aufgabe, klarzumachen, wofür das Judentum steht – wofür wir angegriffen werden.
Nach wie vor ist eine große Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland in orthodoxen Gemeinden organisiert. Wie akzeptiert sind Sie dort?
Ich habe den Eindruck, dass durch die Etablierung des liberalen Judentums im Zentralrat auch die Akzeptanz in den jüdischen Gemeinden gewachsen ist. Ich habe orthodoxe Kollegen, mit denen ich ein kollegiales Verhältnis pflege. Ich kenne auch viele Juden, die eigentlich das liberale Judentum leben möchten, aber in einer orthodox geführten Einheitsgemeinde leben. Wenn sie damit unzufrieden sind, rate ich ihnen, statt unrealistische Veränderungen in der orthodoxen Synagoge zu fordern, lieber selbst eine liberale Gruppe zu gründen, auch wenn sich diese zunächst im Wohnzimmer trifft, so war das bei mir vor 30 Jahren auch. Man kann schauen, was sich daraus entwickelt.
Sie sind nicht nur liberal, sondern auch die erste Frau an der Spitze einer Rabbinerkonferenz in Deutschland. Wie wurde das angenommen?
Die orthodoxen Rabbiner wissen ganz genau, dass in den rabbinischen Schriften eigentlich nichts Grundsätzliches gegen rabbinisch gelehrte Frauen steht. Ob man dann auch institutionell eine Rabbinerin anstellt, ist noch mal eine andere Frage. Aber Gelehrsamkeit an sich ist ein Wert, dem Respekt gebührt, und den habe ich oft gespürt bei meinen orthodoxen Kollegen. Sie arbeiten eben im orthodoxen System, das kann ich akzeptieren. Das gilt übrigens auch für die orthodoxen jüdischen Frauen. Da gibt es durchaus einige sehr selbstbewusst auftretende Frauen, die innerhalb der Orthodoxie für ihre Gleichberechtigung eintreten. Ihnen gegenüber hat es keinen Zweck zu verlangen: »Kommt doch rüber zu uns.« Ich sehe meine Aufgabe ausschließlich bei den Liberalen, und da gibt es genug zu tun. Es gibt aber auch bei uns Rabbiner, die man überzeugen muss, dass Gleichberechtigung ein Wert ist, für den auch die Männer mit ihrem eigenen Wirken einstehen sollten. Der Skandal um das Abraham Geiger Kolleg hatte ja auch eine Komponente von Frauenfeindlichkeit. Und noch immer sind nur ein Viertel unserer Mitglieder in der ARK Rabbinerinnen, also Frauen. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Aber es ist natürlich schön, durch meinen Vorsitz und jetzt die Wiederwahl zeigen zu können: Es ist möglich, dass eine Frau an der Spitze steht und sich dort halten kann.
Am 19. Juni haben die Mitglieder der Allgemeinen Rabbinerkonferenz turnusmäßig ihren neuen Vorstand gewählt. Die bisherige Vorsitzende, die Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, erhielt die meisten Stimmen und bleibt Vorsitzende. Ebenfalls als Vorstandsmitglied bestätigt wurde Militärrabbiner Nils Ederberg. Er wird stellvertretender Vorsitzender. Zum dritten Vorstandsmitglied wählte die ARK den in der Jüdischen Liberalen Gemeinde Köln amtierenden Rabbiner Daniel Katz.
Das Interview mit Elisa Klapheck führte Mascha Malburg.