Talmudisches

Hunger und Durst

»Wenn dein Feind ... Durst hat, so gib ihm Wasser, denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen« (Mischlei 25, 21–23). Foto: Getty Images/iStockphoto

König Schlomo lehrte: »Wenn dein Feind Hunger hat, so gib ihm Brot, und wenn er Durst hat, so gib ihm Wasser, denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen, und Gʼtt wird dich belohnen« (Mischlei 25, 21–23).

Auf den ersten Blick gibt König Schlomo lediglich einen klugen Ratschlag. Wenn man mit jemandem verfeindet ist und diese Person sich in einer Notlage befindet, so soll man dem Feind trotzdem helfen. Der Feind wird durch dieses Verhalten beschämt werden. Die feurige Kohle ist eine Metapher dafür. Der Feind wird seine Feindschaft vielleicht überdenken, und man selbst wird für eine solche Tat von Gʼtt den gerechten Lohn erhalten.

So sieht es auch Rabbi Joschua (Megilla 15b). Er versteht Esthers Wunsch, Haman zum Essen einzuladen (Buch Esther 5,4) als jüdische Sitte: Auch den Feind muss man speisen!

BÖSER TRIEB An einer anderen Stelle lehrt der Talmud (Sukka 52a) aus dem oben genannten Spruch Schlomos, dass der böse Trieb verschiedene Namen hat. Einer ist »Feind«. Der »Feind« befindet sich in uns selbst, es ist unser eigener niederer Trieb.

Das Brot und das Wasser, die an dieser Stelle erwähnt werden, sind laut dem mittelalterlichen Kommentator Raschi eine Metapher für die Tora. Wenn jemand also vom Feind, dem bösen Trieb, mit dem Verlangen zu sündigen, angegriffen wird, so soll er dem Bösen mit dem Brot und dem Wasser der Tora begegnen. Das Torastudium wird den Satan wieder leise machen, und der Lohn im Jenseits wird dadurch vergrößert. Warum bringt der Talmud diese alternative Leseart der Schrift?

Ich denke, einer der Gründe ist, dass der wahre Durst und der wahre Hunger spiritueller Natur sind. Schon die Tora lehrt uns: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allem, was der Mund des Ewigen hervorbringt« (5. Buch Mose 8,3).

Irdisches Vergnügen Die Lust nach irdischem Vergnügen, die als »Durst und Hunger des Feindes« beschrieben wird, ist eigentlich der Wunsch nach etwas Tieferem, der geistigen Erfüllung durch die Präsenz Gʼttes. Daher kann für den Talmud als adäquate Antwort auf den Hunger des »Feindes« nur das Toralernen gelten.

Raschi schreibt zu dieser Talmudstelle sogar: »Auf dass dein Trieb mit dir in Vollkommenheit lebt und dich nicht zur Sünde treibt, um dich aus der Welt zu tilgen.« Laut Raschi kann man durch das Studium der Tora also in Vollkommenheit mit den eigenen Trieben leben und mit ihnen Frieden schließen.

Die erste Talmudstelle versteht den Feind als persönlichen Feind und den Durst beziehungsweise Hunger als körperlichen Durst und Hunger. Die zweite talmudische Stelle sieht in dem Feind den bösen Trieb und versteht den Durst und Hunger als Bedürfnisse, die durch die Tora gestillt werden sollen. Im Folgenden möchte ich eine dritte Interpretation anbieten.

Antisemitismus Rabbiner Eliezer Melamed schreibt, dass im Jerusalemer Tempel während des Sukkotfestes 70 Bullen für das Wohl aller Völker der Welt dargebracht wurden. Man sah Tieropfer also als eine Art Bitte, die unseren Wunsch nach Frieden und Wohlstand für alle Nationen ausdrückt. Diese Opfergaben erfüllten aber auch den Juden selbst einen Dienst. Durch den Wohlstand und das gute Leben unter den Völkern sollte der Antisemitismus klein gehalten werden. Falls es aber trotzdem zu Judenhass kommt, so erfüllt man durch die Opfergaben, laut Rabbiner Melamed, den Vers: »Wenn dein Feind Hunger hat …«

Gibt man jemandem, der es nicht verdient hat, trotzdem etwas Gutes, so bekommt die Person, die barmherzig ist, ein Stück vom spirituellen Lohn des Nehmers, in diesem Fall des Feindes – was letztendlich zur Beseitigung des Feindes führt.

Laut dieser Interpretation ist der Feind also ein Antisemit. Hunger und Durst sind der Antisemitismus, und unser Brot und Wasser sind die Opfergaben, die im Tempel dargebracht wurden.

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025