Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Israelische Soldaten der Golani-Brigade bei einem Manöver auf den Golanhöhen (Juni 2013) Foto: picture alliance / AP Photo

Im August 1999 hatte mein Zug von »Sajeret Golani«, einer Eliteeinheit der israelischen Armee (IDF), seinen ersten Einsatz im Libanon. Die Aufgabe bestand darin, einen Hinterhalt zu legen, um zu versuchen, Terroristen der Hisbollah zu ergreifen, jener Organisation, die Israel immer wieder im Norden angreift. Ein großer Teil der Soldaten im Zug war religiös, und es stand die Frage im Raum, ob es erlaubt sei, im Hinterhalt Tefillin anzulegen. Die Antwort war: nein.

Der Zugkommandant war zwar religiös, doch er nahm an, dass das Anlegen der Tefillin während des Hinterhalts unsere Reaktionsfähigkeit beeinträchtigen würde, falls es zu einem Zusammenstoß mit den Terroristen käme.

Die Frage, ob und inwieweit die verschiedenen Mizwot in einem militärischen Umfeld eingehalten werden können, steht im Zusammenhang mit dem Thema der »Militär- und Kriegsgesetze« (Hilchot Zava und Milchama). Dieses Rechtsgebiet hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt.

Die religiösen Zionisten sind in Israel zu einem dominanten und entscheidenden Teil in den verschiedenen Einheiten der IDF geworden, und naturgemäß haben sich die halachischen Dilemmata im Militärdienst verstärkt. Viele Bücher wurden zu diesem Thema geschrieben, darunter auch das Buch über Militärgesetze des obersten Militärrabbiners, Brigadegeneral Rabbiner Eyal Krim.

Der Chafetz Chaim schrieb 1881 ein Buch für Soldaten im k. u. k. Militärdienst

Es ist interessant zu erwähnen, dass eines der ersten Bücher im Bereich der »Militär- und Kriegsgesetze« von Rabbi Israel Meir Kagan aus Radin geschrieben wurde, bekannt unter dem Namen Chafetz Chaim. Der Chafetz Chaim lebte im 19. Jahrhundert in der k. u. k. Monarchie. Im Jahr 1881 veröffentlichte er das Buch Machane Israel, das eine halachische und religiöse Unterstützung für Soldaten gab, die im Militärdienst der Donaumonarchie standen. Nicht weniger faszinierend als der Inhalt des Buches ist die Einleitung, in der der Chafetz Chaim nachdrücklich behauptet, dass es möglich sei, auch im Militärdienst ein treuer Jude zu bleiben, der die Halacha befolgt.

Die Grundlage für die Militär- und Kriegsgesetze finden wir in unserem Wochenabschnitt Ki Teze und in der vorherigen Paraschat Schoftim. Während diese den Kampfgeist thematisierte, beschäftigt sich unser Wochenabschnitt mit ethischen Fragen in Kriegszeiten.

In Schoftim geht es um den Geist und die Motivation derjenigen, die in den Krieg ziehen. Der Wochenabschnitt enthält eine großartige Rede des Priesters an die Soldaten vor dem Abmarsch. Darüber hinaus lesen wir, dass diejenigen vom Kriegsdienst befreit sind, für die er nicht angemessen ist, wie zum Beispiel Personen, die kürzlich geheiratet haben oder Angst vor dem Krieg haben.

Im Gegensatz zum Wochenabschnitt Schoftim befasst sich unser Wochenabschnitt mit den moralischen Fragen und dem Alltag im Militär. Einerseits versucht die Geschichte von »Eschet Jefat Toar«, in der ein Mann eine gefangene Frau heiraten möchte, moralische Grenzen in dieser sehr komplexen und unangenehmen Situation zu ziehen. Andererseits wird im weiteren Verlauf des Wochenabschnitts über die Reinheit des Lagers und die Hygiene im Lager gesprochen.

Die relevanteste Aussage des Wochenabschnitts scheinen aber folgende Worte zu sein: »Hüte dich vor allem Bösen (…), und dein Lager soll heilig sein.« Letzteres, »und dein Lager soll heilig sein«, ist auch der Ausdruck, den Nehemia Jacobs, ein Hauptmann in meiner Einheit, verwendete, als er die moralischen Dilemmata im Militärdienst beschrieb. Er war Teil des Zugs, der im August 1999 den oben erwähnten Hinterhalt ausführte. Jacob setzte seine Laufbahn in Kommandopositionen fort, und solche Dilemmata begleiteten ihn weiterhin.

»Man kommt im Rahmen eines Militäreinsatzes in das Haus eines Bürgers oder eines Feindes«, sagt Jacobs, »und muss die Realität im Licht der richtigen Werte sehen. Wenn man zum Beispiel eine Schießscharte in die Wand eines Hauses machen muss, zerstört man nicht die ganze Wand, sondern bemüht sich, die Zerstörung auf ein Minimum zu beschränken.«

Bei einer Belagerung ist es verboten, Obstbäume zu fällen

In diesem Zusammenhang sei auch an das Verbot erinnert, bei einer Belagerung Obstbäume zu fällen: »Wenn du eine Stadt lange Zeit belagerst, um sie zu bekriegen (…), so sollst du ihr Gehölz nicht zerstören, indem du die Axt gegen sie schwingst, denn davon kannst du essen und sollst es nicht umhauen« (5. Buch Mose 20,19).

Ein weiteres Dilemma, mit dem Jacobs konfrontiert war, ist die Einhaltung der Gebote während des Militärdienstes, zum Beispiel das Halten des Schabbats. Die Situation, die Jacobs beschreibt, trat auf, als er bereits verheiratet und Vater war. Manchmal musste er am Schabbat zu einem dringenden Militäreinsatz fahren. Oft dauerte der Einsatz nur wenige Stunden, und danach kehrten die Soldaten nach Hause zurück, auch wenn es Schabbat war. Jacobs und sein Freund wollten vermeiden, am Schabbat zu fahren, und statt zu ihren Familien zurückzukehren, die am Schabbat auf sie warteten, blieben sie oft bis Schabbatausgang in der Kaserne und kehrten erst dann nach Hause zurück.

Obwohl es die Halacha Ärzten und Krankenschwestern erlaubt, am Schabbat nach der Schicht im Krankenhaus nach Hause zurückzukehren, zog Jacobs es vor, diese Erlaubnis nicht in Anspruch zu nehmen, solange es nicht wirklich notwendig war. Wann wird es notwendig? Ist es nur notwendig, wenn Lebensgefahr besteht? Aber was ist mit »Schalom Bayit«, der Sorge um eine gute familiäre Atmosphäre, wenn der Vater nicht an der Schabbatfreude teilnehmen kann? Dies sind halachisch-ethische Dilemmata, mit denen Hauptmann Jacobs konfrontiert war.

Soldaten müssen in jedem Moment ihres Militärdienstes Entscheidungen treffen

Letztendlich müssen die Soldaten und Offiziere in jedem Moment ihres Militärdienstes ethische und halachische Entscheidungen treffen. Unsere Soldaten, denen wir viel Segen und Erfolg wünschen, stehen im Mittelpunkt dieser Dilemmata im Kampf im Gazastreifen. Der Kampf in dicht besiedelten Gebieten im Herzen der Zivilbevölkerung wirft viele ethische Fragen auf. Einerseits besteht die Notwendigkeit, schnell voranzukommen und die Aufgaben optimal zu erfüllen, andererseits muss man eine moralische Haltung bewahren.

Der Wochenabschnitt Ki Teze und der vorhergehende helfen uns in dieser komplexen Situation – einerseits mit einer Vielzahl von Regeln, die konkrete Situationen beschreiben, und andererseits mit zwei ethischen Leuchtfeuern, die uns befohlen werden: »Hüte dich vor allem Bösen!« und »Dein Lager soll heilig sein.«.

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere, das Militär und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19

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