Schöpfung

Glauben Juden an Dinosaurier?

Dinosaurierskelette wurden einst als Drachenknochen verehrt. Doch dann fand die Wissenschaft eine andere Erklärung. Foto: picture alliance / empics

Schöpfung

Glauben Juden an Dinosaurier?

Der Fund der ersten Urzeitskelette stellte auch jüdische Gelehrte vor Fragen. Doch sie fanden Lösungen, das Alter der Knochen mit der Zeitrechnung der Tora zu vereinen

von Rabbiner Dovid Gernetz  23.10.2025 14:13 Uhr

Im Jahr 2014 machten zwei Forscher des Paläontologischen Museums in Argentinien eine sensationelle Entdeckung. Im äußersten Süden des Landes, in Patagonien, stießen sie auf riesige Knochen eines Tieres aus der Gruppe der Titanosaurier. Nach weiteren Ausgrabungen verstanden sie, dass es sich dabei um eine bisher unbekannte Art eines Dinosauriers handelt. Mit einer geschätzten Länge von 37 Metern und einem Gewicht von 70 Tonnen – was in etwa zwölf afrikanischen Elefanten entspricht – handelte es sich um einen der größten Dinosaurier, der jemals auf der Erde lebte.

Entdeckungen wie diese werfen immer wieder die Frage auf, ob gläubige Juden dadurch nicht Zweifel befallen: Stehen Fossilien, Dinosaurier- und Mammutknochen, deren Alter auf Millionen Jahre geschätzt wird, nicht in direktem Widerspruch zur jüdischen Zeitrechnung?

Auf den ersten Blick scheint es eine Diskrepanz zwischen dem Judentum und der Wissenschaft hinsichtlich des Alters unserer Welt zu geben. Wissenschaftler schätzen das Alter der Welt auf etwa 4,5 Milliarden Jahre, während wir im jüdischen Kalender das Jahr 5786 seit der Erschaffung der Welt schreiben. Und laut dem Talmud im Traktat Sanhedrin (97a) wird die Welt, so wie wir sie kennen, insgesamt nur 6000 Jahre bestehen. Wie erklärten sich Rabbiner in der Geschichte diesen Unterschied?

Rabbi Lipschitz glaubte, die Knochen stammten aus einer Welt vor der unseren.

Eine interessante Erklärung lässt sich in einem Vortrag von Rabbi Jisrael Lipschitz (1782–1860) finden, den er im Jahr 1842 hielt und später unter dem Titel »Drusch Or HaChaim« veröffentlichte. Der in Danzig lebende Lipschitz war einer der führenden aschkenasischen Rabbiner seiner Zeit.

In seinem Vortrag bezieht er sich auf den Fund eines fast vollständig erhaltenen Wollhaarmammuts in Sibirien. Es wurde 1806 von Michael Friedrich Adams geborgen und nach St. Petersburg gebracht. Anschließend veröffentlichte Adams einen detaillierten Reisebericht und sorgte damit international für Aufsehen. Zur etwa gleichen Zeit wurden auch die ersten Funde von Dinosaurierskeletten wissenschaftlich beschrieben. Die Knochen deuteten auf extrem große, ausgestorbene Tiere hin, was auf ein hohes Alter schließen ließ.

Brauchte G›tt mehrere Versuche, um unsere Welt zu schaffen?

Rabbi Lipschitz beschäftigte sich mit der Frage, woher jene Funde kamen. Sie schienen ihm nicht von dieser Welt zu stammen. Er zitiert einen kryptischen Midrasch (Bereschit Rabba 3,7), wonach G‹tt Welten erschuf und wieder zerstörte, bevor er unsere Welt erschuf. Natürlich bedeutet dies nicht, dass G›tt mehrere Versuche unternehmen musste, um eine perfekte Welt zu erschaffen, und es existieren tiefe kabbalistische Interpretationen, warum es doch auf diese Art und Weise geschehen sollte. Jedenfalls erklärt Rabbi Lipschitz, dass es Welten gäbe, die vollkommen vernichtet wurden und von denen nichts übriggeblieben sei. Andere Welten seien zwar zerstört, aber nicht vollständig. Von ihren Überbleibseln stammten die Fossilien und Skelette, die von Forschern ausgegraben wurden.

Laut dieser Erklärung würde das Alter der Dinosaurierskelette, das von Wissenschaftlern auf bis zu 145 Millionen geschätzt wird, nicht unbedingt im Widerspruch zur Zeitrechnung des Judentums stehen, denn die gegenwärtigen 5786 Jahre markieren nur das Alter unserer Welt, wie wir sie kennen, während andere Welten vor Millionen von Jahren erschaffen und wieder zerstört worden sein könnten.

Eine andere Meinung finden wir im Kommentar von Rabbi Meir Leibusch Weiser (1809-1879), besser bekannt unter seinem Akronym »Malbim«. Er war einer der bedeutendsten Rabbiner und Kommentatoren des 19. Jahrhunderts. Er bezieht sich direkt auf die paläontologischen Funde von Fossilien und den Versuch der Wissenschaftler, anhand dessen der Welt ein viel höheres Alter zuzuschreiben. Im Gegensatz zu Lipschitz ist er nicht der Ansicht, dass es sich um Lebewesen vorheriger Welten handelt, sondern um Lebewesen, die vor dem Mabul, der Sintflut, gelebt haben. Und der Mabul ist für ihn auch der Grund, warum die Datierung der Dinosaurierknochen und Fossilien nicht verlässlich ist.

Nicht das Alter der Knochen, sondern des Gesteins wird gemessen

Um seine Argumentation nachzuvollziehen, muss zunächst erklärt werden, wie das Alter von Dinosaurierskeletten und Fossilien bestimmt wird. Die aktuell meistverwendete Methode ist die radiometrische Datierung. Dabei wird gemessen, wie sehr die im Material vorhandenen radioaktiven Isotope zerfallen sind. Die Geschwindigkeit des Zerfalls verschiedener Isotope ist bekannt und konstant, sodass man, basierend auf dem Stadium des Zerfalls, ziemlich präzise bestimmen kann, wie alt das besagte Material ist. Bei Fossilien und Dinosaurierskeletten lässt sich diese Methode allerdings nicht direkt anwenden, denn sie ist bei Knochen nur für eine Datierung von bis zu 60.000 Jahren geeignet. Stattdessen wird der Zerfall der Isotope in den Gesteinsschichten, welche die Knochen umgeben, gemessen.

Schon zu Lebzeiten von Rabbi Weiser bestimmten die Forscher das Alter der Knochen über die sie umgebenden Steinschichten. Und genau dort erkennt er ein Problem: »Denn zur Zeit der Sintflut öffnete die Erde ihren Schlund durch die Erschütterungen, die aus den Tiefen der Unterwelt und dem großen Abgrund kamen, und kehrte das Untere nach oben und das Obere nach unten um.«

Rabbi Weiser meinte, die Sintflut habe die Erdschichten durcheinandergewirbelt

Bei der Sintflut handelte es sich laut der Tradition nämlich nicht nur um starken Regen oder um Tsunamis, sondern um eine große Umwälzung der Erdschichten und das Aufsteigen von durch Magma erhitztes kochendes Grundwasser, das 150 Tage die gesamte Erdoberfläche bedeckte. Diese enormen Wassermengen vernichteten alle Lebewesen und die gesamte Vegetation (mit Ausnahme von Noach und den Tieren in der Arche). Somit ging Rabbi Weiser davon aus, dass auch die Fossilien und Dinosaurierknochen, die den Mabul überstanden, diesen extremen Bedingungen ausgesetzt waren, und somit eine Datierung der Gesteinsschichten keine Erkenntnis liefern könne.

Auch bei der heutigen Methode zur Altersbestimmung, die auf der Geschwindigkeit des radioaktiven Zerfalls basiert, muss vorausgesetzt werden, dass die Halbwertszeiten stets konstant blieben – und unter den uns bekannten normalen Umständen ist das der Fall. Doch wenn man, wie Rabbi Weiser, davon ausgeht, dass die Fossilien oder Gesteine extremer Hitze und enormem Druck ausgesetzt waren wird eine Datierung mittels des Zerfalls der Isotope schwammig.

Rabbi Weisers Überlegungen, dass aufgrund der Sintflut solche Datierungen keine verlässlichen Ergebnisse liefern könnten, sind also auch nach heutigem Stand aktuell.

Wie lang dauerte die Schöpfung wirklich?

Die beiden Rabbiner aus dem 19. Jahrhundert versuchen also nicht zu leugnen, dass die Dinosaurier existierten. Sie glauben aber auch nicht, dass ihre Existenz der Zeitrechnung der jüdischen Tradition widerspricht. Sie verstehen das Alter der Welt und die Dauer von sechs Tagen in der Beschreibung der Schöpfungsgeschichte ganz wörtlich.

Jedoch gibt es auch Meinungen unter den jüdischen Gelehrten, die die Schöpfungsgeschichte an sich anders interpretieren. Sie hinterfragen, ob es sich tatsächlich um sechs Tage à 24 Stunden handelte, weil die Himmelskörper erst am vierten »Tag« der Schöpfung erschaffen wurden und die Definition von Zeit davor eine völlig andere war. So schreibt der Gelehrte Rabbi Josef Chaim aus Bagdad (1832-1909), besser bekannt als »Ben Ish Chai«, basierend auf dem Targum Jonathan Ben Uziel, dass der Mensch nicht im Stande ist zu verstehen, wie lange die sechs Tage der Schöpfung wirklich dauerten.

Man sollte Religion und Wissenschaft nicht als Kontrahenten betrachten.

Laut diesem Ansatz muss es überhaupt keinen Widerspruch zwischen dem Judentum und den Berechnungen der Wissenschaft hinsichtlich des Alters von Dinosauriern und der Welt geben, denn die sechs »Tage« der Schöpfung könnten Hunderte Millionen oder sogar Milliarden Jahre gedauert haben. Die 5786 Jahre unseres Zeitverständnisses jedoch beginnen erst nach den sechs Tage der Schöpfung.

Man sollte Religion und Wissenschaft nicht als Kontrahenten betrachten, die um die Wahrheit ringen, sonders als zwei Elemente, die einander vervollständigen. Um es in den Worten von Rabbi Lord Jonathan Sacks zu fassen: »Wissenschaft zerlegt Dinge, um zu sehen, wie sie funktionieren. Religion setzt Dinge zusammen, um zu sehen, was sie bedeuten« (The Great Partnership, 2011).

Heute steht das Skelett des Dinos aus Argentinien im American Museum of Natural History in New York – in einem Saal, der nach den jüdischen Philanthropen Ira David Wallach und seiner Frau Miriam benannt ist. Der Dino mit dem Spitznamen »Máximo« ist so groß, dass sein Kopf aus der Halle herausragt und den Besuchern gleich nach dem Verlassen des Aufzugs Respekt einjagt. Ein eindrücklicher Beweis dafür, dass vor uns majestätische Wesen auf dieser Erde lebten. Aber noch lange kein Beweis gegen die biblische Erzählung.

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Berliner Gemeinde Kahal Adass Jisroel, Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

Noach

Ein neuer Garten Eden

Nach der Flut beginnt das Pflanzen: Wie Noachs Garten zum Symbol für Hoffnung und Verantwortung wurde

von Isaac Cowhey  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025

Bereschit

Die Freiheit der Schöpfung

G›tt hat für uns die Welt erschaffen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, sie zu verbessern

von Rabbiner Avichai Apel  17.10.2025

Talmudisches

Von Schuppen und Flossen

Was unsere Weisen über koschere Fische lehren

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Bracha

Ein Spruch für den König

Als der niederländische Monarch kürzlich die Amsterdamer Synagoge besuchte, musste sich unser Autor entscheiden: Sollte er als Rabbiner den uralten Segen auf einen Herrscher sprechen – oder nicht?

von Rabbiner Raphael Evers  17.10.2025

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025