Interview

Fünf Minuten

Rabbiner Henry Brandt Foto: ddp

Herr Rabbiner, ist das, was Japan erlebt, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes?
Wenn man zum Beispiel den Bezug zur Sintflut herstellen will, sollte man nicht vergessen, dass erst 2004 ein Tsunami in Asien rund 250.000 Menschen in den Tod gerissen hat. Die Geschichte der Menschheit kennt solche Katastrophen. Wir müssen bei diesen furchtbaren Ereignissen nicht immer unbedingt auf die Bibel zurückgreifen.

Wie gehen Sie mit den Meldungen um?
Ich bin zutiefst erschüttert, denke an die Menschen, die dieser Katastrophe ausgesetzt sind. Wir haben es mit zwei Szenarien zu tun: Das eine ist das Erdbeben und der Tsunami, also Naturkatastrophen. Das andere ist die durch Menschen mitzuverantwortende Nuklearkatastrophe. Die Natur zeigt ihre Macht und Kraft und weist uns wieder in unsere Schranken zurück. Wir sind nicht die Herren der Schöpfung, die Meisterschaft liegt woanders.

Es heißt, dass durch die Schöpfung der Welt das Chaos in seine Schranken gewiesen wurde. Wie passt das zu dem Chaos, das wir jetzt erleben?
Darauf kann ich keine Antwort geben. Ich finde es unangemessen, für das Geschehen gleich immer eine theologische Begründung suchen zu müssen .Wenn wir uns aber einbilden, dass die Katastrophen in Japan dem Urchaos der Schöpfung ähnlich seien, könnten wir noch ein sehr unangenhmes Erwachen erleben – oder lieber nicht!

Wenn alles, was Gott tut, gut ist, was ist gut an den Ereignissen in Fukushima?
Man kann versuchen, irgendwie alles zu erklären. Aber ich glaube, das läuft ins Leere. Man kann das Unglaubliche und Unfassbare nicht auf irgendeine Formel bringen. Man spricht über den guten und gütigen Gott, über den strafenden und rächenden Gott und macht sich daraus ein mental fassbares Bild. Das sind aber von Menschen generierte Bilder, die im Zusammenhang mit Gott, dessen Wege nicht unsere Wege sind, keine Relevanz haben.
Dennoch gab es namhafte israelische Rabbiner, die zum Beispiel im Erdbeben von Haiti eine Strafe für den Götzendienst sahen?
Das finde ich absolut absurd und primitiv; es ist mit aller Härte zurückzuweisen. Gott als akribischen Buchhalter der Sünden zu sehen, der quid pro quo bestraft oder belohnt, da wehrt sich jede Faser in mir. So funktioniert die göttliche Vorsehung wahrlich nicht. So zu erklären, dass unzählige unschuldige Männer, Frauen und Kinder umkommen, und sie damit auch noch post mortem der Sünde zu bezichtigen, dass ist – besonders angesichts der Schoa – schlimmer als Götzendienst, das ist Blasphemie, auch und gerade wenn solche Aussagen von Rabbinern stammen.

Was können wir aus dem Geschehen in Japan lernen?
Von den Naturkatastrophen kann man lernen, dass wir die Gegebenheiten der Schöpfung in Betracht ziehen müssen. Vielleicht gibt es bestimmte Bereiche der Weltoberfläche, die wir einfach in Ruhe lassen sollten. Oder wir müssen uns damit abfinden, dass es diese Naturkatastrophen gibt, und so viel Schutzmaßnahmen wie möglich ergreifen. Das andere betrifft die Nuklearkatastrophe. Hier haben wir etwas geschaffen, was uns die Wissenschaft ermöglicht, wir aber nicht unter Kontrolle halten können. Wir haben wieder einmal erfahren, dass es absolute Sicherheit nicht gibt. Wir müssen daraus unsere Lehren ziehen, zum Beispiel, dass wir uns in Hinblick auf unseren Konsum von Energie und anderen Dingen etwas bescheidener geben sollten. Gleichwohl finde ich es absolut unangebracht, wie man hier bei uns versucht, politisches Kapital aus solchen Katastrophen zu schlagen. Vielmehr sollte die Politik uns Bürgern den Eindruck vermitteln, dass jeder über Parteigrenzen hinaus am Wohl der Bevölkerung interessiert ist.

Mit dem Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland sprach Detlef David Kauschke.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025