Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

»Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewahre«: Das erste Bild des Menschen in der Tora ist das eines Gärtners. Foto: Getty Images/iStockphoto

Ein Kommentar von Bundeskanzler Friedrich Merz, in dem er die Bürger dazu aufrief, »mehr zu arbeiten«, hat eine alte Debatte neu entfacht: Arbeiten die Deutschen wirklich hart genug? Oder sind sie einfach zu faul? Als Französin weiß ich nicht, ob ich schmunzeln oder mir Sorgen machen soll. Und was könnte Merz über unsere heiligen fünf Wochen Urlaub im Jahr denken?

Obwohl diese Diskussion vor allem politische und wirtschaftliche Bedeutungsebenen hat, so berührt sie doch etwas Tieferes, und zwar die zentrale Frage, welchen Stellenwert Arbeit in unserem Leben hat. Wie bringen wir sie in Einklang mit den mentalen, physischen und vielleicht auch spirituellen Bedürfnissen nach Ruhe? Es dürfte wenig überraschen, dass die jüdische Tradition hierzu einige Antworten bereithält, die uns neue Perspektiven vermitteln.

Die frühen Rabbiner sahen Müßiggang als spirituelle und moralische Bedrohung.

Das erste Bild des Menschen in der Tora ist das eines Arbeiters – nicht das eines Firmenchefs oder Soldaten, sondern eines Gärtners: »Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewahre« (1. Buch Mose 2,15). Arbeit ist im jüdischen Denken nicht bloß ökonomisches Überleben; sie ist heilige Teilhabe an der Schöpfung: Das hebräische Wort »Awoda« bedeutet sowohl »Arbeit« als auch »Gottesdienst«. In diesem Verständnis ist Mühe etwas Erhebendes. Doch in der Genesis ist Arbeit auch eine Strafe. Nachdem Adam die verbotene Frucht gegessen hat, sagt Gott ihm, dass der Boden verflucht sein wird und er fortan nur noch »unter Mühsal« und »im Schweiße seines Angesichts« Nahrung finden werde.

Arbeit trägt also eine doppelte Bedeutung. Sie ist sowohl heilige Teilhabe an Gottes Schöpfung als auch Ausdruck des gefallenen Zustands der Menschheit und ihrer Entfremdung von der Leichtigkeit und Kontemplation des Gartens Eden. Je weiter entfernt vom Göttlichen, desto näher an Materialität und Mühsal.

Wenig Verständnis für das »Dolce far niente«

Die Bibel hat daher wenig Verständnis für das »Dolce far niente«, das süße Nichtstun. In den Sprüchen heißt es: »Geh zur Ameise, du Fauler … Ein wenig Schlaf, ein wenig Schlummer, und die Armut kommt wie ein Räuber« (Sprüche 6, 6–11). Die frühen Rabbiner sahen Müßiggang nicht nur als Ursache für den wirtschaftlichen Ruin, sondern als spirituelle und moralische Bedrohung. »Müßiggang führt zu Langeweile und Sünde«, heißt es im Talmud (Ketubot 59b).

Arbeit erscheint hier fast als Ablenkung – als Schutz davor, sich zur Verfehlung hinreißen zu lassen. Und tatsächlich haben autoritäre Systeme die physische Erschöpfung durch Arbeit oft als Kontrollmittel genutzt. Ist die Bevölkerung zu sehr ermüdet, kann sie kaum Widerstand leisten, so der Gedanke dahinter. Das Ägypten des Pharaos ist ein gutes Beispiel für dieses Prinzip.

Doch exzessive Arbeit fordert das Judentum auch nicht – ganz im Gegenteil! Das radikalste Arbeitsgesetz der Tora ist der Schabbat, also das Gebot, nicht zu arbeiten. »Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun. Aber der siebte Tag ist ein Schabbat für den Herrn, deinen Gott. An ihm sollst du keinerlei Arbeit tun – weder du noch dein Sohn, noch deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh oder der Fremde in deinen Toren. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde geschaffen, das Meer und alles, was darin ist, und er ruhte am siebten Tag. Darum segnete der Herr den Schabbat und erklärte ihn für heilig.«

Nicht zu arbeiten, bedeutet Freiheit. Das lehrt der Schabbat.

Interessant ist, dass die Begründung für diese Unterbrechung der Arbeit nicht rationaler Natur ist, beispielsweise weil sich so durch einen Ruhetag langfristig die Produktivität steigern ließe. Vielmehr liegt der Sinn darin, Gott nachzuahmen: Wir ruhen, weil Gott ruhte.

Wie Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. es so treffend auf den Punkt brachte: Der Schabbat ist »die größte Lektion in Freiheit, die je ersonnen wurde«. Juden sind nicht gegen Marktwirtschaft oder technischen Fortschritt. Das Gegenteil ist der Fall, wir begrüßen sie sogar. Doch im Schabbat liegt eine notwendige Gegenbewegung. »Der Schabbat ist ein Protest gegen eine Gesellschaft, die den Wert des Menschen an seiner Produktivität misst.«

Die rabbinische Tradition strebt einen Ausgleich an

Die rabbinische Tradition strebt einen Ausgleich an. »Torastudium ist gut zusammen mit Derech Eretz (allgemein verstanden als Arbeit), denn das Mühen um beides hält die Sünde fern.« Die Rabbiner fordern eine Balance zwischen geistigem Lernen und weltlicher Arbeit, zwischen intellektueller Auseinandersetzung und materiell ausgerichteter Produktivität. Jeder Elternteil hat die heilige Pflicht, seinen Kindern sowohl ein Handwerk beizubringen als auch die Tora zu lehren. Es geht also darum, ihnen fachliche und intellektuelle Kompetenzen mit auf den Weg zu geben. Sie sollen verstehen, was Arbeit wirklich bedeutet. Zugleich soll der Nachwuchs sensibilisiert werden, Menschen nicht nur auf ihre Leistung zu reduzieren.

Diese Ansätze stellen auch die Neigung infrage, andere vorschnell als faul abzustempeln. »Richte jeden Menschen zugunsten aus«, sagen die Weisen (Pirkej Awot 1,6). Was wie Faulheit aussieht, kann in Wahrheit Erschöpfung, strukturelle Ungerechtigkeit oder eine Behinderung sein. In der jüdischen Ethik wird ebenfalls gefragt: Wer darf eigentlich definieren, was »genug« ist?

Deutschland teilt mit anderen postindustriellen Gesellschaften ganz reale Probleme: Fachkräftemangel, Überalterung sowie wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Doch wenn die Debatte komplexe Realitäten auf ein moralisierendes »Entweder-oder« reduziert, im konkreten Fall auf »fleißig oder faul«, droht sie nicht nur schnell ungerecht zu werden, sondern ignoriert ebenfalls tiefere Wahrheiten. Denn jüdische Quellen lehren uns: Arbeit kann heilig sein – aber auch die Ruhe.

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