Im Toraabschnitt dieser Woche lesen wir: »Gott vertilgte also alle Wesen auf dem Erdboden, vom Menschen bis zum Vieh, bis zu den Kriechtieren und den Vögeln des Himmels; sie alle wurden von der Erde vertilgt. Übrig blieb nur Noach und was mit ihm in der Arche war« (1. Buch Mose 7,23).
Oft richten Exegeten den Blick auf die Rettung der Tiere, die in diesem Vers – und an vielen anderen Stellen unserer Parascha – hervorgehoben wird. Doch wäre Noach allein mit den Tieren in der Arche gewesen, hätte das nicht genügt. Mensch und Tier mussten während der langen Monate der Flut versorgt werden. Deshalb gebot Gott Noach, »alle Nahrung, die gegessen wird«, mitzunehmen – für sich selbst und für die Tiere (1. Buch Mose 6,21).
Rabbiner David Kimchi, der Radak (1160–1230), lehrt, dass Mensch und Tier in der Arche ausschließlich von pflanzlicher Nahrung lebten. In jener gefährlichen Zeit waren alle Geschöpfe vom Grün der Erde abhängig. Noach wusste nicht, wie lange die Flut dauern würde – deshalb musste die Arche einer Art Gewächshaus geglichen haben: mit sorgfältig abgedichteten Fenstern, geschützt vor Wasser und Kälte
(1. Buch Mose 7,16).
Das erste Zeichen für das Ende der Flut war ein Olivenblatt, das eine Taube zur Arche brachte.
Darin wuchsen Pflanzen in allen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen – genug, um die Tiere zu nähren und die Menschen zu erhalten. Der Midrasch (Schir HaSchirim Rabba 4,1) fügt hinzu, dass nicht nur die Arche, sondern auch der Garten Eden und das Land Israel gegen die Flut versiegelt waren. So wurde die Arche zu einem auf den Wassern der Flut treibenden Garten Eden – einem schwimmenden Paradies, das die Zukunft allen Lebens bewahrte.
Das erste Zeichen für das Ende der Flut war ein Olivenblatt, das eine Taube zur Arche brachte. Doch woher kam dieses Blatt, wenn doch alle Bäume vom Wasser vernichtet worden waren?
Maimonides, der Rambam (1138–1204), lehrt, dass es aus dem Garten Eden oder aus dem Land Israel stammte – jenen Orten, die von der Flut verschont blieben. Ein schönes Sinnbild, das drei Epochen verbindet: die Vergangenheit des Gartens Eden, die Gegenwart der Arche und die Zukunft Israels. Der italienische Bibelwissenschaftler Umberto Cassuto (1883–1951) sieht es anders: Das Blatt, so meint er, stamme von einem Baum außerhalb des Gartens und Israels – ein Zeichen, dass neues Leben auch jenseits des Heiligen Landes zu keimen begann.
Die Äste der Bäume waren von der Gewalt der Flut abgerissen, und was blieb, waren bloße Stämme – leblos, entastet, entblättert. Ohne Blätter jedoch kann ein Baum nicht leben: Sie sind sein Atem, seine Nahrung, seine Seele. Nach der Flut ragten die Stämme aus dem Wasser wie Schiffsmasten ohne Schiffe. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn aus ihnen wieder ein Blatt gesprossen wäre.
So endeten die Folgen jener gewaltigen, übernatürlichen Kraft, mit der Gott das Wasser einst nicht als Quelle, sondern als Waffe des Lebens einsetzte. Als dann ein einziges Blatt erschien, war es das Zeichen, dass diese Kraft sich gewandelt hatte – von Zerstörung zu Schöpfung. Das Olivenblatt wurde zum Symbol dafür, dass Gottes Zorn verraucht war und die Erde wieder bewohnbar wurde.
Der Midrasch (Bereschit Rabba 33,1) lehrt: besser bittere Selbstständigkeit als süße Abhängigkeit. Das Ende der Flut markierte auch das Ende direkter göttlicher Fürsorge. Als Noach, seine Familie und die Tiere die Arche verließen, schloss Gott einen neuen Bund mit der Menschheit: Der Ewige werde das Leben nie wieder durch Wasser vernichten, und der Mensch solle pflanzen, sich vermehren und die Erde füllen (1. Buch Mose 9, 1–7).
Was aber bedeutet »pflanzen«? Das hier verwendete hebräische Verb stammt von der Wurzel für »Frucht« und bezeichnet zugleich das Wachsen und Gedeihen einer Pflanze. In der Arche hatten Noach und die Seinen Früchte und Gemüse gebraucht, um zu überleben; nun, nach der Flut, verpflichtete sie der neue Bund, das Leben wieder neu zu säen – einen Garten zu pflanzen, ein neues Eden zu erschaffen. Wie Rabbiner Shlomo Ephraim Luntschitz, der Kli Jakar (1550–1619), erklärt, bedeutete dies einen tiefgreifenden Wandel: von der göttlichen Versorgung in der Arche hin zur menschlichen Verantwortung, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Wie Noach besitzen auch wir die Mittel und die Möglichkeiten, die genetische Vielfalt des Lebens zu bewahren.
Als nach der Flut das Land wieder trocknete, pflanzte Noach einen Weinberg. Es war der Beginn eines neuen Projektes – eines neuen Gartens Eden. Der Rambam erklärt, die erste Rebe sei von einem Weinstock auf der Arche genommen worden und somit zur Urmutter aller Weinreben der Welt geworden. Doch Noach und der Wein – das erwies sich als eine unheilvolle Verbindung, deren Folgen tragisch waren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Unser Blick richtet sich auf die Pflanzen, die Noach in die Arche brachte – jene, aus denen sich die Flora der Welt erneuerte. So wie Noach einst Verantwortung für das Überleben des Lebens trug, tragen auch wir sie heute. Doch wir scheitern an dieser Aufgabe. Nach Angaben der Royal Botanic Gardens in Großbritannien könnten bis zu 45 Prozent aller Pflanzenarten aussterben. Die Artenvielfalt schrumpft, und Tag für Tag werden Pflanzenbestände vereinheitlicht – mit weitreichenden Folgen für die Ökosysteme, von denen auch andere Pflanzen und Tiere abhängen.
Wie Noach besitzen auch wir die Mittel und die Möglichkeiten, die genetische Vielfalt des Lebens zu bewahren. Das Svalbard Global Seed Vault auf Spitzbergen ist eine moderne Arche – ein Tresor, der Saatgutproben aus aller Welt beherbergt. Doch im Unterschied zu Noachs Arche ist diese Saatgutbank unvollständig: Sie enthält längst nicht alle Samen. Hunderte, vielleicht Tausende Pflanzenarten – und über 90 Prozent der Pilzarten – sind bislang unentdeckt. Eine unbekannte Art lässt sich nicht retten. Wir dürfen keine neue Flut, keine Zerstörung unserer Ökosysteme zulassen, im Glauben, ein Lager von Samen könne das Leben sichern. Wir sind nicht Noach – und wir werden keine zweite Chance bekommen, unseren Teil des Bundes zu erfüllen.
Der Autor ist Student am Abraham J. Heschel Seminar für konservative Rabbinerausbildung.
inhalt
Der Wochenabschnitt Noach erzählt von G›ttes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32