Glaubwürdig

Das wahre Selbst

Rätselhaft: Maske und Verkleidung können den Menschen dahinter verbergen (Filmszene aus »Die Maske« mit Jim Carrey). Foto: cinetext

Glaubwürdig

Das wahre Selbst

Der Mensch soll sich nach außen so verhalten, wie er in seinem Inneren ist

von Tobias Jona Simon  26.07.2010 12:34 Uhr

Mosche rekapituliert kurz vor dem Eintritt ins Land, vor seinem Tod, die Ereignisse der Wüstenwanderung. Er erzählt, wie er zwei Mal auf den Berg stieg und die Tafeln des Bundes bekam. Jeweils 40 Tage und 40 Nächte blieb er dort, ohne Essen, ohne Trinken.

Als er das erste Paar Tafeln bekommt, sieht er beim Abstieg, wie das Volk um das Goldene Kalb tanzt – und vor Wut darüber zerbricht er die Tafeln. Beim zweiten Mal sagt Gott ihm, er solle sich die Tafeln selbst zurechthauen und eine Holzkiste bauen, um die Tafeln darin aufzubewahren (5. Buch Moses 10,1).

Aber da ist etwas Merkwürdiges an der Geschichte! Wenn wir uns die Ereignisse im Sefer Schemot, dem 2. Buch Moses, ansehen, sehen wir, dass Mosche mit dem zweiten Satz Tafeln vom Berg steigt, danach die Kunsthandwerker beruft, allen voran Bezalel ben Uri, und diese beginnen dann zunächst mit dem Bau des Stiftszelts und danach mit der Bundeslade (2. Buch Moses 37,1).

Wenn Mosche vor dem Bau der Lade auf dem Berg war, kann diese Holzkiste, von der hier die Rede ist, nicht die Bundeslade sein, die später im Stiftszelt steht. Abgesehen davon ist die Bundeslade mit Gold überzogen, mit zwei Cherubim auf dem Deckel – bei aller Liebe zu Mosche, diese Kiste hätte selbst er nicht auf den Berg geschafft!

Deutungen Generationen von Kommentatoren haben sich über diese Kiste den Kopf zerbrochen. Der Midrasch Tanchuma aus dem 9. Jahrhundert fragt sich, was denn mit dieser hölzernen Lade war, wenn die Tafeln in der großen goldenen Lade lagen? Die Antwort gibt er sich selbst: Es lagen die Bruchstücke der ersten Tafeln darin! Raschi (1040–1105, Frankreich) glaubt, dieser erste Kasten aus Holz, den Mosche gemacht hat, sei die Lade, die im Kriegsfall mit dem Heer in die Schlacht zog, eine Art leichtes Marschgepäck. Ramban (1194–1270, Spanien) ist der Meinung, in dieser Kiste seien die Tafeln aufbewahrt worden, bis das Heiligtum errichtet worden ist, dann erst sei der vergoldete Kasten gemacht worden.

Die meisten Rabbinen des Talmud sind jedoch der Meinung, es habe immer nur eine Lade gegeben, von zweien sei nie die Rede. Im Mischkan habe nur eine Lade gestanden, ebenso im Tempel. Die Kiste, die Mosche benutzte, muss also Bezalels Bundeslade gewesen sein. Wie auch immer, diese Frage werden wir hier und heute wohl nicht lösen können. Das ist aber auch nicht weiter schlimm. Egal ob wir uns der Meinung anschließen, es habe eine zusätzliche hölzerne Lade für die steinernen Tafeln gegeben, oder es gab nur eine Lade, nämlich die von Bezalel ben Uri – wir können aus den Auslegungen lernen.

beständig Auf der einen Seite haben wir Mosche, der die Tafeln aus Stein haut und sie in einer Kiste aus Holz verstaut. Auf der anderen Seite gibt es eine Lade, die aus Holz gefertigt ist und innen und außen mit Gold überzogen wurde. Stein ist ein anorganisches Material, es ist hart, es ist beständig. Holz hingegen ist organisch, es lebt und bewegt sich, es ist weich, es kann verbrennen oder verrotten, aber bei guter Pflege auch Jahrhunderte überdauern. Gold ist ein Material, das glänzt und seit Urzeiten für Luxus, Wohlstand und Reichtum steht.

Hier können wir sehen, wie das Judentum es geschafft hat, bis heute zu bestehen. Unsere Tora, unsere Lehre, unser Leitfaden, unsere Werte – sie sind beständig, wie in Stein gemeißelt. Die Verpackung ist veränderbar, weich und lebendig, flexibel.

Jede Generation hat die Tora ihren Bedürfnissen und Lebensumständen entsprechend ausgelegt, forderte eine zeitgemäße Interpretation der Tora. Das ist direkt nach der Tempelzerstörung nicht anders gewesen als im 11. Jahrhundert und gilt natürlich auch für uns heute. Völlig egal, ob man sich im Bereich der Bräuche, der Liturgie oder der Humangenetik bewegt – es ist der Kern, der Inhalt, an dem wir uns orientieren müssen. Jede Situation, die neu für uns ist, auf die wir reagieren müssen, verlangt von uns, vor dem Hintergrund unserer Werte und Überzeugungen geprüft zu werden.

Übereinstimmung Wir können die Verpackung den Lebensumständen anpassen, ohne den Inhalt zu verlieren. Um mit der Zeit zu gehen, müssen wir unsere Werte und unsere Tradition nicht hinten anstellen. Wichtig ist, dass wir uns nicht verbiegen oder gar verleugnen, wer wir sind und wofür wir stehen. Dies zeigt uns das Beispiel der goldenen Lade: Das Innenleben des Aron ist hölzern, er war jedoch von außen und von innen mit Gold überzogen. Es gab zwischen innen und außen keinen Unterschied.

Die Übereinstimmung von außen und innen muss immer gegeben sein. Ich soll mich nach außen nicht anders verhalten, als ich innerlich bin. Wie ich mich nach innen verhalte, wie ich bin, so soll ich mich auch nach außen verhalten. Keine falschen Tatsachen vortäuschen. Als Noach seine hölzerne Arche baute, hat er sie von innen und von außen mit Pech verputzt. Es muss nicht immer Gold sein, was ich nach außen zeige, aber es soll doch meinem Selbst entsprechen. Das bin ich mir schuldig. Und meinen Mitmenschen.

Der Autor ist Rabbinatsstudent am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025