Ethik

Auf das Leben!

Beim Anstoßen, ob mit Kiddusch-Wein oder Gin Tonic, rufen Juden traditionell: »Le Chaim!« – auf das Leben. Foto: Getty Images

Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihre Religion mit wenigen Worten beschreiben. Gelänge Ihnen das? Einfach ist es jedenfalls nicht. Schließlich ist das Wesen der meisten Religionen recht komplex.

Und trotzdem wollen wir es nun einmal versuchen: Was das Judentum angeht, so lautet die Antwort – oder besser eine Antwort: Das Judentum ist eine Religion des Lebens! Das klingt nun nicht allzu religiös, geradezu profan! Wo bleiben da die hochtrabenden theologischen Konzepte? Wo die moralischen Fundamente? Das soll das Wesen der ältesten monotheistischen Religion sein? Jawohl! Denn hinter der jüdischen Betonung des Lebens verbergen sich tiefgründige Ideen und Werte, die manch anderen Religionen und Kulturen zuwiderlaufen.

Anschaulich wird dies durch eine Erzählung des amerikanischen Rabbiners Benjamin Blech, die sich in seinem Buch Hope not Fear findet. Darin schreibt Rabbiner Blech über seine Begegnung mit dem weltbekannten Schriftsteller Ernest Hemingway.

Im Jahr 1956 hatten Blech und zwei seiner Freunde nach Jahren des Rabbiner-Studiums endlich ihre Ordination erhalten und freuten sich auf einen gemeinsamen Urlaub in Kuba.

Die drei Rabbiner baten den Fahrer anzuhalten, um Hemingway einen Besuch abzustatten

Als sie durch die Außenbezirke von Havanna fuhren, wies der Fremdenführer sie auf ein prächtiges Anwesen hin und erzählte, dass dies der Wohnsitz des Schriftstellers Ernest Hemingway sei. Die drei Rabbiner baten den Fahrer anzuhalten, um Hemingway einen Besuch abzustatten. Das klang in den Ohren ihres Begleiters nach einem beinahe unmöglichen Unterfangen, denn der Schriftsteller war bekannt dafür, niemanden ohne Termin zu empfangen. Doch die drei ließen sich nicht entmutigen. Und da Gʼtt bekanntlich denen hilft, die sich selbst helfen, empfing Hemingway die drei Rabbiner.

Nachdem sie in sein Arbeitszimmer geführt worden waren, folgte zunächst ein verbaler Schlagabtausch, um herauszufinden, ob es lohnenswert sei, sich mit den jungen amerikanischen Rabbinern zu unterhalten. Doch als Hemingway überzeugt war, dass er seine wertvolle Zeit nicht verschwenden würde, entspann sich ein Gespräch. Dabei erklärte der Schriftsteller, dass er schon lange mit einem Rabbiner sprechen wollte, aber bisher nie die Gelegenheit dazu gehabt habe.

Hemingway hat sich im Verborgenen mit dem Judentum beschäftigt.

Hemingway erzählte, dass er viele Jahre lang ein großes Interesse an Religion hatte, obwohl er nie darüber gesprochen oder geschrieben habe. Nicht nur hätte er viele Religionen eingehend studiert, sondern auch versucht, die Rituale zu befolgen, um zu sehen, ob sie zu ihm sprechen würden. Jedenfalls sei Hemingway nach intensivem Nachdenken über die Religionen zu einer wichtigen Schlussfolgerung gelangt: dass sich alle Religionen in eine von zwei Hauptkategorien einteilen ließen.

Religionen des Todes und Religionen des Lebens

Es gebe Religionen des Todes und Religionen des Lebens. Die Todesreligionen seien diejenigen, deren Hauptaugenmerk auf der Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod liegt. Man verzichte auf das Diesseits und seine Freuden, um sich ganz der kommenden Welt zu widmen. Das, so Hemingway, sei allerdings nichts für ihn. Was er hingegen respektiere, seien Religionen wie das Judentum, die unsere Verpflichtungen gegenüber dem Diesseits und nicht gegenüber dem Jenseits betonen.

Wie Rabbiner Blech schreibt, habe Hemingway das Wesen des Judentums damit vielleicht besser auf den Punkt gebracht, als es die meisten Juden selbst können. Denn das Judentum ist eine Religion des Lebens! »Wähle das Leben«, heißt es in der Tora. Der Tod wird natürlich thematisiert, aber was danach geschieht, bleibe dem Leser absichtlich verborgen.

Blech schreibt, er habe die Gelegenheit genutzt, um Hemingways Sicht zu bestärken, indem er ihm von den Priestern und ihren Aufgaben im Judentum erzählte. Im Gegensatz zu den Priestern vieler anderer Religionen nämlich, die sich entweder ausschließlich oder zumindest in weiten Teilen mit dem Tode befassen würden, sei es im Judentum ganz anders. Denn den Kohanim, also den jüdischen Priestern, sei es strikt verboten, mit den Toten in Kontakt zu kommen!

Täten sie es doch, so würden sie unrein. Bis heute dürften die Kohanim keine Trauerhalle betreten, in der sich eine Leiche befindet. Und auch der Besuch eines Friedhofs oder eines Grabes ist für sie bis auf wenige Ausnahmen tabu. Der Grund, so Rabbiner Blech, war für die Kommentatoren klar: Die jüdischen Priester müssen sich ihrer Aufgabe und ihrer Funktion stets bewusst sein. Ihre Aufgabe sei es, sich um die Lebenden zu kümmern, nicht um die Toten.

Jüdische Priester müssen den Toten fernbleiben, sie sollen sich um die Lebenden kümmern.

Das Leitmotiv des Judentums hat heute nichts an Aktualität eingebüßt. Denn auch heute noch stehen sich die Kräfte des Lebens und des Todes gegenüber. Prallen die zwei Welten immer wieder aufeinander.

Mal religiös, mal kulturell. So etwa der radikale Islam, der sich als Gegenentwurf zur westlichen Zivilisation darstellt und der das Leben nach dem Tod glorifiziert, Märtyrerkulte pflegt und den Tod verherrlicht. Der frühere Anführer der Terrororganisation Al Qaida, Osama bin Laden, hat die Essenz des radikalen Islam mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht, als er sagte: »Ihr liebt das Leben, und wir lieben den Tod!«

»Ein Vermächtnis hinterlassen, das künftigen Generationen hilft«

Rabbiner Blech schrieb dazu Folgendes: »Den Tod zu lieben bedeutet, Kindern von frühester Jugend an beizubringen, dass ihre größte Leistung darin besteht, den Märtyrertod zu sterben. Das Leben zu lieben bedeutet, Kindern beizubringen, dass der beste Weg, ihrem Leben einen Sinn zu geben, darin besteht, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, damit sie durch ihre Leistungen ein Vermächtnis hinterlassen, das künftigen Generationen hilft.«

Eine Bekannte war kürzlich bei der Beerdigung ihres Vaters in Israel. Und da es dort üblich ist, bereits 30 Tage nach der Beerdigung einen Grabstein zu stellen, suchte sie einen Steinmetz auf, um einen geeigneten Grabstein auszusuchen. In ihrer Trauer fiel ihr die Entscheidung sichtlich schwer. Da sagte ihr der Steinmetz, der immerhin seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Grabsteinen bestritt: »Ich gebe dir einen guten Rat: Du solltest dein Geld für die Lebenden ausgeben und nicht für die Toten!«

Dort, in Israel, neben dem Friedhof, umgeben von Tod und Trauer, sprach dieser Mann etwas aus, das weise und berührend zugleich ist. Eine tiefgreifende Wahrheit, die mit einfachen Worten auf den Punkt bringt, was das Judentum seit eh und je durchdringt.

In der Tora heißt es: »Ich habe vor dich hingegeben das Leben und den Tod, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst (…)« (5. Buch Mose 30,19).

Das ist sie. Die Quintessenz des Judentums. So simpel und doch so wertvoll.

Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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