Perspektiv

Alleine geht’s nicht

Massenandrang an der Kotel in Jerusalem: Spiritualität ist im Judentum keine einsame Angelegenheit. Foto: Flash 90

Warum legt das Judentum so viel Wert auf Gemeinschaft – angefangen mit der rituellen Pflicht, dreimal am Tag mit neun anderen Juden gemeinsam zu beten, bis hin zur enormen Bedeutung der Synagoge im jüdischen Denken?

Dies steht in starkem Gegensatz zu anderen Religionen. Die Repräsentanten beinahe aller übrigen religiösen Systeme – vom christlichen Mönch zum islamischen Imam – betrachten das Individuum als potenziell perfekt in sich selbst. Dies bedeutet, dass das wahrhaft spirituell erleuchtete Individuum in Isolation leben kann. Ja, es wird sogar dazu ermuntert, in Isolation zu leben, um spirituelle Perfektion zu erreichen. Doch aus jüdischer Perspektive wird der Einzelne dazu gezwungen, einer Gemeinschaft anzugehören, um religiöse Perfektion zu erreichen. Warum ist das so, und welchen Wert hat die Gemeinschaft?

Gruppe Um dies zu verstehen, müssen wir unser Konzept bezüglich des Wertes der Gemeinschaft neu strukturieren. Dabei geht es um die Frage, worin die Überlegenheit einer größeren Gruppe von Menschen gegenüber dem Einzelnen liegt. Es können mehrere Dinge sein. Vielleicht verfügt die Gruppe über ein größeres kombiniertes Potenzial an intellektuellen Fähigkeiten als ein einzelner Mensch. Der Wert der Gemeinschaft liegt darin, dass einzelne Personen zusammenkommen, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, welches von vielen zusammen und nicht von einem einzelnen Menschen erreicht wird.
»Gemeinschaft«, schrieb einmal ein Philosoph, »ist eine Ansammlung von Menschen, deren bestimmende Eigenschaft die gemeinsame Teilnahme ist. Gemeinschaften sind letztendlich auf irgendeine Form der Handlung ausgerichtet. Die kollektive Teilnahme der Gemeinschaft wird durch das individuelle Interesse des Einzelnen an jedem Mitglied angetrieben.«

Feuer Man erzählt sich die Geschichte eines Mannes, der Mitglied einer dynamischen Gemeinde war. Jahrelang nahm er an den wöchentlichen Schabbatg’ttesdiensten teil. Aber dann erschien er plötzlich nicht mehr. Es war Winter. Der Rabbiner fragte nach dem Grund, aber er konnte nur in Erfahrung bringen, dass es dem Mann zwar gut ginge, er aber nicht mehr zu den G’ttesdiensten käme.

Daraufhin besuchte der Rabbiner den Mann zu Hause. Dort sah er ihn, gemütlich am Kamin ein Buch lesend. Der Rabbiner gesellte sich zu ihm, ohne ein Wort zu sagen. Und beide Männer saßen nun gemeinsam im Schein der wärmenden Flammen. Der Rabbiner nahm plötzlich die Kaminzange in die Hand und entfernte ein brennendes, glühendes Stück Kohle aus den Flammen, um es an einen isolierten Platz im Kamin zu legen. Während das Feuer im Kamin weiterhin brannte und knisterte, wurde das isolierte Stück Kohle immer blasser und blasser, bis es schließlich ganz verlosch. Es wurde kalt und tot.

Ohne ein Wort zu sagen, stand der Rabbiner auf, nickte in Richtung des Mannes und ging nach Hause. Am nächsten Schabbat kam dieser wieder zur Synagoge. Ein brennendes Stück Kohle, welches vom gemeinschaftlichen Feuer isoliert wird, geht leicht aus. Der Mann hatte die Botschaft verstanden.

Einmal angenommen, die Talente von Einstein, van Gogh, Michelangelo und der großen Denker und Künstler, die einen enormen Einfluss auf die Menschheit gehabt haben, wären alle in einer Person vereint: Wäre es dann immer noch schlüssig und richtig, von der Überlegenheit einer Gruppe ungebildeter Menschen gegenüber einer einzelnen, außergewöhnlich talentierten Person zu sprechen? Was wäre mit einem Moses oder einem Baal Schem Tow? Würde es nicht mehr Sinn machen, dass diese Menschen in der Isolation weit mehr erreichen könnten, als wenn sie von Menschenmassen umgeben sind, die sich intellektuell und spirituell weit unter ihrem Niveau bewegen?

Minjan Das Judentum betont, dass auch sie die Gemeinschaft brauchen! Der klassische Beweis ist das Konzept des Minjan, der fordert, dass wir zu zehnt sein müssen, bevor wir im Gebet vor G’tt erscheinen dürfen. Wenn wir neun perfekte Zaddikim haben, dann müssen diese auf ein 13 Jahre altes Kind warten, bevor sie mit dem Gebet beginnen können. Wenn wir einen Minjan mit folgenden neun Personen hätten – Abraham, Isaak, Jakob, Moses, David, Jeremia, Rabbi Akiva, Raschi und Rambam –, so dürften sie nicht aus der Tora lesen, nicht einmal Kaddisch sagen. Wenn wir allerdings eine Gruppe von zehn jüdischen Schneidermeistern hätten, die alle An-alphabeten sind, dann können wir sagen: »Jisgadal wjitkadasch schmej raba!« Wenn es um die Heiligkeit geht – was kann ein 13-jähriges Kind dieser bemerkenswerten Ansammlung von intensiver Heiligkeit hinzufügen, über die diese Gruppe von Zaddikim verfügt? Das ist wahrlich zutiefst irrational.

Talmud Die oben genannte philosophische Frage bezüglich des Wertes der Gemeinschaft erkennen wir durch eine scheinbar technische Debatte im Talmud. Es handelt sich um eine interessante Passage, welche die allgemeine Debatte über den Wert der Gemeinschaft umfasst. Sie ist in der Mischna (Traktat Berachot 49b) zu lesen: Wenn drei Juden gemeinsam speisen, dann machen sie ein »Semun«, es ist die Einladung zum Gebet des Dankes nach dem Essen. Dies wird von einem Einzelnen gesprochen: »Lasst uns den Einen segnen, von dem wir gegessen haben.« Wenn zehn Personen gemeinsam essen, dann wird der Name G’ttes in die Einführung des Dankgebetes eingefügt: »Lasst uns unseren G’tt segnen, von dem wir gegessen haben.« Was passiert, wenn 100, 1000 oder 10.000 zusammen ein Festmahl genießen?

Rabbi Akiva sagt, dass sich nichts verändert. Derselbe Text, der bei zehn Personen gesprochen wird, wird auch bei 10.000 gesagt. Rabbi Josi Haglili argumentiert, dass wir mit jeder weiteren Dezimalstelle die Worte des Lobes zu G’tt erhöhen. Bei 100 fügen wir »dem Herrn« hinzu, und bei 1000 »dem Herrn, G’tt Israels«. Bei 10.000 erreichen wir den Höhepunkt: »dem Herrn, G’tt Israels, und dem G’tt der Gastgeber, der unter den Cherubim lebt«. Welche Gründe liegen diesen unterschiedlichen Meinungen zugrunde? Was bewegt Rabbi Akiva dazu, zu sagen, dass wir, wenn wir die »Zehnerschwelle« überschritten haben, keine Unterscheidungen beim Segen machen, während Rabbi Jose sagt, dass es weiterhin durchaus Unterschiede gibt?

Gemeinden Hierzu die Geschichte zweier Gemeinden: Der Rogatchower Gaon, Rabbi Josef Rozen, hat eine einzigartige Betrachtungsweise dazu. Er sieht hinter dieser technischen Debatte einen philosophischen Grund. Es ist geradezu faszinierend, zu sehen, wie eine scheinbare technische Diskussion in Wirklichkeit die Debatte des Jahrtausends widerspiegelt – wie wir den Wert der Gemeinschaft gegenüber dem Wert des Individuums festlegen.

Aus der Sicht von Rabbi Jose liegt der Wert der Gemeinschaft darin, dass sie mehr Individuen zusammenbringt. Ein Kollektiv ist keine qualitativ radikale Abkehr vom Individuum. In einer Gemeinschaft haben wir einfach mehr Individuen, die zusammen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Je größer die Anzahl, desto größer die kollektive Einheit.

Die Ansicht von Rabbi Akiva ist radikal anders. Die Gemeinschaft ist nicht allein durch den quantitativen Vorteil dem Individuum überlegen. Eine Gemeinschaft hat eine ganz andere Qualität gegenüber einem einzelnen Menschen, ihr Wesen ist anders. Wenn der einzige Unterschied zwischen einem einzelnen Menschen und einer Gruppe der wäre, dass eine Gruppe über mehr Menschen verfügt, dann würde es sich lediglich um einen zahlenmäßigen und nicht einen Unterschied im Wesen handeln. Die jüdische Perspektive besagt allerdings, dass Menschen, die zusammenkommen, um ein Kollektiv zu formen, trans- zendiert sind und eine völlig neue Ebene erreicht haben.

Im jüdischen Denken ist eine Gemeinschaft nicht bloß ein mathematisches Konstrukt, bei dem man einen Menschen nach dem anderen hinzufügt, sondern vielmehr ist es ein Sprung in eine völlig neue Konstruktion der Heiligkeit und religiösen Bedeutung.

Qualität Das erklärt, warum Rabbi Akiva keine weiteren Segen hinzufügt, wenn mehr als zehn Personen gemeinsam speisen. Mit der Zahl zehn wurde eine Form der Einheit geschaffen, die weitaus größer ist als die Summe ihrer Teile. Der Wert von zehn besteht nicht darin, dass es eins mehr als neun ist, sondern dass eine ganz neue »Einheit« und neue Energie geschaffen wurde. Wenn es zehn gibt und das Kollektiv geformt ist, dann trägt die Quantität nichts zu der »Gemeinde« bei. Quantität fügt Zahlen hinzu, aber diese fügen der bereits durch die zehn geschaffenen Energie keine neue Energie hinzu.

Gemäß Rabbi Akiva ist das Konzept der »Zehnerschwelle« eine radikale Abwendung von der Herangehensweise der zu-
nehmenden Quantität, welche die normale, eher humanistische Herangehensweise, vertreten durch Rabbi Jose, charakterisiert. Die Halacha folgt Rabbi Akiva. Wir betrachten die Gemeinschaft nicht als Ansammlung vieler Individuen, sondern als eine völlig neue Einheit, mit einer völlig neuen Kraft, Qualität, Energie und Vitalität. Es geht nicht um »mehr«, es geht vielmehr um eine »neue Schöpfung«. Aus diesem Grund brauchen auch die heiligsten und weisesten Juden die Gemeinschaft. Denn nur durch sein oder ihr Verhältnis zur Gemeinschaft kann er oder sie die Höhen erreichen, die alleine niemals erreicht werden können.

Das ist die Kraft unserer Gemeinschaft. Es geht hierbei nicht nur um eine Gruppe toller Typen, die unter einem Dach ist, Lechaim sagt und redet. Nein, vielmehr wird durch unser Zusammensein eine neue Dynamik geschaffen – ein neues Licht, ein Quantum entfernt von unserem Leben als Individuen. Wir haben gemeinsam Wunder geschaffen und werden auch weiterhin Wunder schaffen.

Stachelschwein Dazu die Geschichte vom Stachelschwein: Es war der kälteste Winter aller Zeiten. Viele Tiere starben wegen der Kälte. Die armen kleinen Stachelschweine erkannten die gefährliche Situation, in der sie sich befanden, und beschlossen, als Gruppe zusammenzustehen, denn somit konnten sie sich gegenseitig bedecken. Aber mit den Stacheln verletzten sie sich gegenseitig, auch wenn sie einander wärmten.

Nach einer Weile beschlossen sie, sich voneinander zu entfernen, und kurz danach starben die Ersten. Sie waren allein – und erfroren. Auch wenn sie kleine Tiere sind, so mussten sie eine Entscheidung über Leben und Tod treffen: entweder die Stacheln der anderen ertragen oder von der Erde veschwinden.

Sie trafen die weise Entscheidung, wieder beieinander zu stehen. So lernten sie, mit den kleinen Verletzungen zu leben, die durch das enge Beisammensein mit ihren Artgenossen entstanden waren. Aber das Wichtigste war die Wärme, die sie einander spendeten und die es ihnen ermöglichte zu überleben.

Daher ist die beste Beziehung nicht die, die perfekte Menschen zusammenbringt, sondern die, in der jeder Einzelne lernt, mit den Fehlern der anderen zu leben, und die guten Qualitäten der anderen erkennt. Und mehr noch: Durch die Zusammenkunft können wir eine völlig neue Ebene des Lebens erfahren.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Direktor des Jüdischen Bildungszentrums Berlin.

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