EILMELDUNG! Friedrich Merz im zweiten Versuch zum Bundeskanzler gewählt

Reaktionen

Jüdische Stimmen zum gescheiterten ersten Wahlgang

Renée Röske ist Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten. Sie ist eine von vielen jüdischen Stimmen, die sich beunruhigt über die heutige Abstimmung zeigen. Foto: PR

Es ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik: Friedrich Merz ist im ersten Anlauf an der Kanzlerwahl gescheitert. Wie ist das einzuordnen? Und was sagt es über die politischen Verhältnisse in unserem Land aus? Wir haben jüdische Stimmen in Deutschland gefragt.

Renée Röske, Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer SozialdemokratenFoto: Evonik Industries AG

Renée Röske, Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten
»25 Jahre lang hat die eigene Partei die Kanzlerschaft von Friedrich Merz verhindert. Ursprünglich mit völlig unrealistischen Erfolgsaussichten konnte er sich die Schwächen der Ampel zunutze machen. Der gescheiterte erste Wahlgang mag für den einen oder die andere die Möglichkeit sein, dem eigenen Vorsitzenden sagen zu wollen, dass er nicht für alle in der CDU steht. Aber es ist nicht die Zeit, irgendjemandem einen vor den Bug geben zu wollen, während die Zustimmungswerte zu einer gesichert rechtsextremistischen Partei immer höher werden. Gerade im Kampf gegen Antisemitismus brauchen wir schnell eine handlungsfähige und konsequente Regierung.«

Michael WolffsohnFoto: picture alliance / Susanne Jahrreiss/Michael Wolffsohn/dpa

Michael Wolffsohn, Historiker
»Ich bin schockiert, weil Demokraten auf diese Weise die Demokratie demokratisch schwächen, gefährden oder gar abschaffen. Ich war von Anfang an für eine CDU/CSU-Minderheitsregierung, die wohl kaum weniger stabil sein dürfte als, wie jetzt bereits absehbar, Schwarz-Rot. Die arithmetische Alternative wäre Schwarz-Blau, also CDU/CSU mit AfD. Möchte das etwa jemand der Abweichler? Und geschähe das aus Dummheit oder Berechnung? Das können wir nur beantworten, wenn wir wissen, wer die Abweichler waren.«

Esther SchapiraFoto: Chris Hartung

Esther Schapira, Journalistin
»Geschichte wiederholt sich nicht und Deutschland heute ist nicht Deutschland 1933. Aber damals wie heute kommt es darauf an, dass Freiheit und Demokratie entschlossen verteidigt werden. Dieser Verantwortung ist der Deutsche Bundestag heute nicht gerecht geworden. Persönliche Rache, Wut, Kränkung, Unzufriedenheit mit dem Koalitionsvertrag - wer jetzt Häme und Schadenfreude verspürt, der hat nichts begriffen. Heute haben alle verloren, außer der AfD. Spätestens heute muss uns allen klar sein: Demokratie braucht ein breites Bündnis. Dafür muss die demokratische Opposition genauso Verantwortung übernehmen wie wir alle außerhalb des Parlaments. Wie das geht, sehen wir in Israel Woche für Woche. Ob aber Deutschland einem solchen Stresstest der Demokratie gewachsen sein wird? Ich fürchte die Antwort.«

Der Publizist Michel FriedmanFoto: picture alliance/dpa

Michel Friedman, Publizist
»Friedrich Merz ist gescheitert. Einen schwächeren Start konnte dieser Kandidat nicht vorlegen. Das Schlimme: Es ist nicht nur ein Fehlstart und eine Schwächung von Friedrich Merz, sondern auch eine für Deutschland.
Das drittgrößte Wirtschaftsland der Welt, das wichtigste Land mit Frankreich und Polen in der EU, hat sich blamiert. Das Geheimnis, wer die Abweichler waren, wird sowieso nicht enthüllt werden können. Dass wird den Berliner Intrigenstadel dynamisieren. Niemand wird es gewesen sein wollen. Alle waschen ihre Hände in Unschuld. Diese Koalition wird vom Geist des Misstrauens begleitet. Sollte Friedrich Merz in einem zweiten Wahlgang gewählt werden, weiß nicht nur er, sondern jeder, dass dieser Warnschuss ihn während der gesamten Legislaturperiode begleiten wird und es sich wiederholen könnte. Seine Autorität nach innen und außen ist beschädigt.«

Seit 2019 im EU-Parlament: Sergey LagodinskyFoto: Michael Thaidigsmann

Sergey Lagodinsky, Grünen-Abgeordneter im Europaparlament
»Es ist ein Denkzettel und eine Schwächung der Regierung. Aber auch das gehört zur Demokratie. Wir sollten diese Turbulenzen als Demokratie schnell hinter uns bringen und eine Regierung wählen. Die Welt und Europa wartet auf eine funktionierende Regierung in Berlin. Die Aufgabe von Merz ist es gerade jetzt die Gesellschaft zusammenzuhalten und für klare Mehrheiten sorgen.«

Gideon Botsch, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum, PotsdamFoto: picture alliance / SZ Photo

Prof. Dr. Gideon Botsch, Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam
»Diese gescheiterte Kanzlerwahl ist auch das Ergebnis des Wahlkampfes von Friedrich Merz. Er hat eine Politik vorangetrieben, die nach Rechtsaußen mobilisiert hat, um die Wähler der AfD für die Union zurückzugewinnen. Das hat allerdings die AfD gestärkt und die Mitte massiv geschwächt. Sonst wäre die CDU meiner Einschätzung nach über die 30 Prozent gekommen. Und das ist genau die rechnerische Mehrheit, die Herrn Merz jetzt zur Kanzlerwahl gefehlt hat. Die große Aufgabe, vor der Merz steht, ist, die demokratische Mitte wieder zu stärken und das Land zusammenzuführen. Doch diese Aufgabe könnte den Kanzlerkandidaten und sein designiertes Team überfordern, deren Interesse bisher eher darauf lag, mit einer Disruptionspolitik, die man sich auch unter dem Einfluss der Regierung Trump offensichtlich für nötig hält, demokratische Aushandlungsprozesse zu umgehen. Doch genau diese Fähigkeit zum Kompromiss und die Hinwendung zur Mitte wäre jetzt notwendig. Die gescheiterte Kanzlerwahl ist ein weiteres Zeichen einer bröckelnden Demokratie, die wir schon seit einiger Zeit beobachten.«

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»Hört auf jüdische Stimmen«, sagt Elio Adler, Vorstandsvorsitzender der WerteInitiative.Foto: Marco Limberg

Elio Adler, WerteInitiative
»In einer Zeit wachsender Polarisierung und Erfolgen extremistischer Kräfte braucht Deutschland eine stabile, demokratische Mitte. Die heutige Nichtwahl eines Kanzlers sendet ein beunruhigendes Signal. Nun ist es an den Fraktionen der Mitte, zügig eine verantwortungsvolle Lösung zu finden – für eine handlungsfähige Regierung und das Vertrauen in unsere freiheitlich-demokratische Ordnung.«

15.6.2015, Berlin. Hotel Hampton by Hilton. Herbert Rubinstein, Projektleiter Jüdische Kulturtage Rheinland-Pfalz.Foto: © Gregor Zielke

Herbert Rubinstein, Schoa-Überlebender und Zeitzeuge
»Es gibt einen Spruch: ›Mein Gott, beschütze mich vor meinen Freunden, denn Feinde habe ich genug.‹ Bei Wahlen ist es wie auf hoher See. Und in diesem Fall war die Sicherheit, ob diese kleine Mehrheit es schaffen würde – meinem Gefühl nach – sehr wackelig. Konrad Adenauer hat es damals mit seiner eigenen Stimme geschafft und hat letztendlich für das Land sehr viel bewirkt. Wenn wir ein bisschen in die Zukunft schauen könnten, dann habe ich das Gefühl, dass Friedrich Merz auch eine ganze Menge bewirken wird, aber im Moment hat er viele Zweifler. Denn die große Koalition hat vieles im Unsicheren gelassen. Das, was er jetzt aufräumen muss und die Anstrengungen, die er unternehmen muss, um nach vorn zu gehen, das ist eine Herkulesaufgabe, die kaum einer schaffen kann.
Ich sage also: Vielen Menschen fehlt das Vertrauen in die Republik und wir brauchen dieses Vertrauen wieder zurück – Vertrauen in die Demokratie brauchen wir. Mein Appell an die Parteien: Scharrt Euch hinter den Kanzlerkandidaten! Denn wenn ihr das nicht macht, dann wird das Bild, das Deutschland in der Welt abgibt, mit sehr großen Fragezeichen behaftet sein.«

Journalist Toby Axelrod moved to Germany in 1997. She reports on Jewish topics for the American media.Foto: Chris Hartung

Toby Axelrod, amerikanisch-jüdische Journalistin in Berlin
»Die Tatsache, dass die AfD diesen Rückschlag für Friedrich Merz offen feiert, spricht Bände. Für alle, die sich wegen des Aufstiegs rechtsextremer Parteien in Europa Sorgen machen, ist dies ein Warnsignal. Es unterstreicht die Schwäche der etablierten demokratischen Parteien in Deutschland, wie auch der zweite Platz für die AfD bei der Bundestagswahl gezeigt hat. Dass Mitglieder der etablierten demokratischen Parteien Friedrich Merz ihre Stimme verweigerten, war eine Überraschung. Es wird offensichtlich immer schwieriger, eine Koalition ohne die extreme Rechte zu bilden. Hoffen wir, dass dies heute nur eine Protestwahl war und Friedrich Merz beim zweiten Anlauf genügend Stimmen erhält.«

Reinhard SchrammFoto: picture alliance/dpa

Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen
»Ich bin enttäuscht. Es schadet dem Ansehen der deutschen Politik. Die Verantwortung muss auch bei dem letzten Abgeordneten da sein, denn wenn es uns nicht gelingt, mit den beiden Parteien aus der Mitte eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu machen, werden wir bald eine politische Katastrophe haben, und sei es, dass zunächst die AfD wieder fünf oder zehn Prozent mehr Stimmen bekommt. Und dann besteht bei der nächsten Wahl die Gefahr, dass es einen furchtbaren Rechtsruck gibt. Lasst also Euren persönlichen Kram beiseite und seht die Verantwortung als Abgeordnete des deutschen Volkes und für die Demokratie, die gefährdet ist.«

JSUD-Präsident Ron DekelFoto: Gregor Matthias Zielke

Ron Dekel, Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Deutschland
»Dass es für Merz nicht gereicht hat, zeigt, in welch prekärer Lage sich unsere Demokratie derzeit befindet. Aus der Union als auch aus der SPD hört man deutliche Unzufriedenheit mit dem Koalitionsvertrag. Auch mich besorgen die darin beschriebenen Pläne: Die Kontrollen an den EU-Außengrenzen gefährden das zentrale Prinzip der Freizügigkeit des Schengen-Raums. Die zunehmende Schlechterbehandlung von Geflüchteten ist erschreckend. Für uns als JSUD ist auch das völlige Fehlen einer konkreten Thematisierung jüdischer Studierender im Koalitionsvertrag alarmierend. Gleichzeitig ist klar: Das Land braucht eine stabile Regierung. Vergleiche mit der Geschichte sind oft problematisch und vereinfachen komplexe Zusammenhänge – und doch konnte ich mich bei dieser Nachricht nicht dagegen wehren: Mein erster Gedanke galt dem Scheitern stabiler Mehrheiten in der Weimarer Republik, während rechtspopulistische Kräfte immer weiter an der Demokratie sägten.«

Igor Matviyets lebt in Sachsen-Anhalt.Foto: Thyra Veyder-Malberg

Igor Matviyets, SPD-Politiker in Halle
»Ehrlich gesagt bin ich nicht überrascht. Friedrich Merz hat in jüngster Vergangenheit bewiesen, dass er mit der Grunddisziplin von Demokratie, nämlich der Organisation von Mehrheiten, ein Problem hat. Zum Wohle der Bundesrepublik hoffe ich aber, dass sich diese Hängepartie nicht hinzieht. An der SPD, so sieht es die klare Mehrheit nach dem Mitgliederentscheid, sollte es auf jeden Fall nicht scheitern.«

Zusammengestellt von Philipp Peyman Engel, Ayala Goldmann, Mascha Malburg, Katrin Richter und Joshua Schultheis.

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