Antisemitismus

Warnstufe rot

»Schande für unser Land« nannte Nancy Faeser die Schoa-Verharmlosung bei Corona-Demos. Foto: imago images/aal.photo

Antisemitismus

Warnstufe rot

Das Lagebild des Verfassungsschutzes bestätigt die Einschätzungen von Betroffenen und Experten

von Matthias Meisner  30.04.2022 22:04 Uhr

Es gibt zwei wichtige Haftungsausschlüsse im neuen Lagebild Antisemitismus, das in der vergangenen Woche von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorgestellt wurde. Zum einen: Die 116-seitige Expertise des Bundesamtes für Verfassungsschutz lässt den Alltagsantisemitismus außen vor, bei dem beispielsweise beleidigende Witze über Jüdinnen und Juden gemacht werden, es abfällige Blicke gibt, demonstrative Ausgrenzung.

Zum anderen: Der Verfassungsschutz gibt zu, dass es bei den Deliktzahlen ein großes Dunkelfeld gibt, das vermutlich ein Vielfaches des polizeibekannten Hellfeldes ausmacht.

Doch auch so ist die Lage alarmierend genug. Der Bericht des Verfassungsschutzes, mit dem eine frühere Zusammenfassung aus dem Jahr 2020, die damals erste dieser Art, fortgeschrieben wird, zeichnet ein facettenreiches Bild verschiedenster Formen der Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden.

rechtsextremismus Die größte Relevanz sieht die Behörde im Rechtsextremismus, wo der »Antisemitismus unverändert ein Ideologieelement« sei, »das die Szene entscheidend prägt«. Die Zahlen dazu: Insgesamt 2351 antisemitische Straftaten wurden 2020 registriert, davon 57 Gewalttaten. Auf den Bereich der politisch motivierten Gewalt von rechts entfallen 2224 Straftaten, davon 50 Gewalttaten.

Zum Konjunkturprogramm für Antisemiten wurde in den vergangenen zwei Jahren die Corona-Pandemie.

Die Zahl der Straftaten ist damit so hoch wie noch nie seit Erfassung, die vor 20 Jahren begann. Besonders ragten zuletzt die rechtsterroristischen Morde in Halle 2019 und Hanau 2020 heraus. Aus dem Manifest des Attentäters von Halle liest der Verfassungsschutz ein »von Antisemitismus durchzogenes Weltbild« heraus. Beim Hanauer Attentäter ziehe sich eine antisemitische Grundfärbung wie ein roter Faden durch das gesamte Bekennerschreiben.

Zum Konjunkturprogramm für Antisemiten wurde in den vergangenen zwei Jahren die Corona-Pandemie. »Die große Gefahr, dass Rechtsextremisten die Anschlussfähigkeit antisemitischer Positionen für ihre Zwecke nutzen, hat sich besonders im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen gezeigt«, heißt es im Bericht.

Die Pandemie habe rechtsextremistischen und antisemitischen Akteurinnen und Akteuren die Möglichkeit geboten, »Proteste des sehr heterogenen Spektrums von coronaleugnenden, staatliche Maßnahmen kritisierenden und Impfungen ablehnenden Personenkreisen für sich zu instrumentalisieren, um so Reichweite und Akzeptanz der eigenen Argumente zu vergrößern«.

Haftbefehl Mit anderen Worten: Antisemitismus wird in immer weiteren Teilen der Gesellschaft salonfähig. Beispielhaft wird die extreme Judenfeindschaft des veganen Kochs Attila Hildmann beschrieben, der inzwischen mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Man könnte viele weitere Beispiele hinzufügen, den Musiker Xavier Naidoo etwa, der mit seinem dreiminütigen Video und dem Versuch einer Distanzierung von früheren antisemitischen Äußerungen keinesfalls als geläutert angesehen werden kann.

Eine »Schande für unser Land« sei die Holocaust-Verharmlosung bei Corona-Protesten, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« spricht in einem Kommentar zum Lagebild des Verfassungsschutzes von einer »Renaissance klassischer antijüdischer Wahnvorstellungen, flankiert von abstrusen Vergleichen zwischen staatlichen Schutzmaßnahmen und der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus«. Das Blatt erwartet mit Blick auf das erhoffte Ende der Pandemie: »Diesen Varianten des Antisemitismus wird wohl kein langes Leben beschieden sein.«

Der Verfassungsschutz gibt zu, dass es bei den Deliktzahlen ein großes Dunkelfeld gibt.

Wird das so sein? Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, lobte die Analyse des Verfassungsschutzes als »differenziert«, betonte aber die weiter wachsenden Bedrohungen, die sich durch die Vernetzungen unterschiedlicher Milieus ergeben: »Über die sogenannte Querdenker-Szene finden Rechtsextremisten inzwischen leicht Zugang zu Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft. Zudem gibt es enge Verbindungen zwischen der AfD und der rechtsextremen Szene. Diese Verknüpfungen sind brandgefährlich.« Der Zentralratspräsident erklärte: »Die Antisemitismus-Warnlampe leuchtet dunkelrot.«

Das Lagebild spricht den Aspekt der fortschreitenden Radikalisierung von Teilen der bürgerlichen Mitte an, allerdings ohne konkrete Zahlen oder demoskopische Erhebungen zu liefern. Mehrere Wissenschaftler werden zitiert, laut denen Antisemitismus »keineswegs primär ein Randgruppenphänomen von Extremisten« sei. Die Ursache für Antisemitismus liege »in der Mehrheitsgesellschaft, nicht im Verhalten oder in den Eigenschaften der Minderheit«, heißt es da.

Lobend verweist der Verfassungsschutz auf die engagierte Arbeit von Forschern und zivilgesellschaftlichen Initiativen in diesem Bereich. Positiv erwähnt werden beispielsweise die Amadeu Antonio Stiftung, das Projekt »Stopantisemitismus.de«, die Meldestelle RIAS, das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena sowie das neue Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS).

nahostkonflikt Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagte bei der Vorstellung des Berichts, es sei »erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft anschlussfähig sind und als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien dienen«. Zunehmend sei das bei den Corona-Protesten geschehen, aber auch bei Kundgebungen zum Nahostkonflikt oder auch neuerdings im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Es ist ein gewisser Spagat für die Behörde: Gemäß Definition seiner Aufgaben ist der Verfassungsschutz auf die Beobachtung der politischen Extreme fokussiert. Er kommt bei seinen Analysen an Grenzen, wenn es um fundierte Aussagen zu demokratiefeindlichen Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte geht. Der Antisemitismus der bürgerlichen Mitte werde im Lagebild »nicht ausreichend thematisiert«, kritisiert die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD); sie sieht insgesamt im Bericht des Verfassungsschutzes aber »einen guten Überblick über die Realitäten der dramatischen Judenfeindschaft in der deutschen Gesellschaft«.

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