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Video soll ukrainische Soldaten beim Drangsalieren russischsprachiger Zivilisten zeigen

Das Stalinhochhaus ist der Sitz des russischen Außenministeriums. Foto: picture alliance / dpa

Ein etwa zweiminütiges Video einer Dashcam, also einer kleinen Kamera an einem Auto, kursiert im Netz. Die auf den 24. März 2023 datierte Aufnahme zeigt angeblich ukrainische Soldaten, denn sie steigen aus einem Fahrzeug mit einer ukrainischen Flagge. Einer der beiden bedroht und beschimpft eine russischsprachige Autofahrerin auf Ukrainisch, was aber nur zu hören ist.

Dann hört man ein Klirren und sieht, wie der Soldat mit seinem Gewehr einige Male am Auto vorbei schießt. Zu hören ist, wie die Frau und ein Kleinkind in Panik geraten. Zeigt das Video also einen Übergriff des ukrainischen Militärs auf Zivilisten?

Bewertung

Das Video ist inszeniert, denn es ist gar nicht in ukrainisch kontrolliertem Gebiet aufgenommen worden. Es lässt sich anhand optischer Details in eine Gegend verorten, die bereits seit 2014 unter der Kontrolle der pro-russischen Separatisten im Osten der Ukraine steht und seit der Invasion 2022 von Russland kontrolliert wird. Ukrainische Soldaten sind dort nicht präsent.

Fakten

Mehrere Merkmale im Video zeigen, dass es an einer Straßenkreuzung im Südosten der Großstadt Donezk aufgenommen wurde: nördlich des Proletarskyi-Bezirks und südlich der Nachbarstadt Makijiwka.

Im Video sind rechts zwei große Strommasten in der Nähe von zwei sich kreuzenden Straßen zu sehen. Ein weiterer Anhaltspunkt sind mehrere weiß angestrichene Steine, die links im Bild den Straßenrand markieren. Satellitenaufnahmen des Kartendienstes Google Maps von der besagten Kreuzung zeigen sowohl die genauso angeordnete Hochspannungsleitung als auch die Steine am Straßenrand.

Lage und Beschaffenheit der umliegenden Vegetation passen ebenfalls: Auch wenn die Laubbäume am Straßenrand im Video Ende März noch keine Blätter tragen, erkennt man klar, dass ihre Anordnung jener auf den Satellitenaufnahmen vom besagten Ort gleicht. So ist es etwa bei dem großen überhängenden Laubbaum rechts vom stehenden Auto und bei den Bäumen schräg gegenüber an der Straßenkreuzung.

Ein russischer Telegram-Kanal veröffentlichte zudem ein mutmaßlich aktuelles Foto des Orts, das klar dem Video entspricht. Gemutmaßt wird auf dem Account, dass das Video zeige, wie Ukrainer weit hinter der Front im Einsatz seien. Doch das erscheint wenig glaubwürdig. Das Gebiet um Donezk und der Aufnahmeort stehen seit 2014 unter Kontrolle der pro-russischen Separatisten und der russischen Truppen. Im vergangenen September annektierte Russlands Präsident Wladimir Putin die Oblast Donezk völkerrechtswidrig. Der Aufnahmeort liegt rund 20 Kilometer hinter der derzeitigen Front.

Weitere Merkwürdigkeiten am angeblichen Militärfahrzeug

Auch beim Fahrzeug der angeblichen ukrainischen Soldaten fallen Unstimmigkeiten auf. Die Felgen des VW Amarok sind silberfarben, obwohl solche vom ukrainischen Militär genutzte Fahrzeuge in den meisten Fällen auch an den Felgen in Tarnfarben lackiert werden.

Das deutlich sichtbare Balkenkreuz am Heck soll offenbar eine optische Verbindung zur deutschen Wehrmacht darstellen. In der russischen Propaganda wird immer wieder der Vorwurf erhoben, bei der ukrainischen Regierung und Armee handele es sich um Rechtsextreme oder »Nazis«. Unterstrichen werden soll das offenbar dadurch, dass die Frau im Auto einen tatarisch-muslimisch klingendem Namen nennt und als »Schwein« beleidigt wird.

Offizielle russische Accounts heben diese angeblich ukrainische Beleidigung in ihren Tweets zum Video hervor. Doch sowohl der Dialog als auch die ukrainische Flagge und das Kreuz am Militärfahrzeug dürften Teil der Inszenierung sein.

Irritierend ist zudem: Trotz des groben Umgangs mit der Zivilistin stört die Videokamera hinter der Windschutzscheibe keinen der beiden angeblichen Soldaten - und das, obwohl die Nutzung solcher Kameras in der Ukraine vor rund einem Jahr verboten wurde. Ausdrücklich ist demnach auch das Filmen »von Einheiten des Militärs oder der territorialen Verteidigungskräfte« untersagt. Das Missachten kann eine Haftstrafe von bis zu zwölf Jahren nach sich ziehen.

Zurückrudern in Russland

Verbreitet wurde das Video zusammen mit der falschen Behauptung unter anderem auf dem Twitter-Account des russischen Außenministeriums. Dort ist es inzwischen aber wieder gelöscht worden. Die russische Botschaft in Großbritannien ließ die Inszenierung hingegen online.

Kremlnahe russische Kriegs-Blogger verbreiteten das Video zunächst auf Telegram, posteten später aber eine Richtigstellung, in der das Video als »Fake« und »misslungene Übung unserer Jungs« bezeichnet wird. Wer genau hinter der Aufnahme steckt, ist aber unklar.

Auf Twitter gelang es Nutzern, den Aufnahmeort zu finden und so die russische Propagandabehauptung zu widerlegen. Der ukrainische Geheimdienst GUR nannte das Video in einer offiziellen Stellungnahme auf Telegram »fabriziert« und einen weiteren Versuch, die ukrainischen Streitkräfte zu verunglimpfen. dpa

(Stand: 30.3.2023)

Links

Tatsächlicher Aufnahmeort auf Google Maps (archiviert)

Foto in russischem Telegram-Kanal (archiviert)

Verlauf der Kämpfe im Osten der Ukraine 2014-2018 (archiviert

Frontlage in der Ukraine am 24.3.2023 (archiviert)

Lackierung von Zivilfahrzeug für militärische Zwecke in der Ukraine(archiviert)

Dashcam-Verbot (20.3.2022) (archiviert)

Mehr Informationen zu Dashcams in der Ukraine (archiviert)

Gelöschter Tweet des russischen Außenministeriums (archiviert)

Tweet der russischen Botschaft in London (archiviert)

Video auf kremlnahem Telegram-Kanal (archiviert)

Spätere Richtigstellung (archiviert)

Geolokalisierung auf Twitter (archiviert)

Stellungnahme des ukrainischen Geheimdienstes (archiviert

Beitrag auf Facebook (archiviertarchiviertes Video)

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