Nordrhein-Westfalen

Übelste Hetze

Mülheim an der Ruhr: Die Mehrzahl der verdächtigten Polizisten war in dieser Wache tätig. Foto: imago images/Rupert Oberhäuser

Nach der Aufdeckung mehrerer rechtsradikaler Chatgruppen bei der nordrhein-westfälischen Polizei in Mülheim an der Ruhr haben jüdische Gemeindevertreter strafrechtliche Konsequenzen gefordert.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, nannte die Enttarnung eines rechten Netzwerkes bei einer Dienststelle der Essener Polizei »zutiefst besorgniserregend«. Es sei »allerhöchste Zeit, genau hinzusehen und Rechtsextremismus bei der Polizei konsequent zu verfolgen und zu ahnden. Derartige Fälle werfen einen dunklen Schatten auf die Arbeit der Polizei«.

Mitte der vergangenen Woche waren Ermittler zufällig auf insgesamt fünf private Chatgruppen von Polizeibeamten gestoßen, als sie das Handy eines Polizisten überprüften, dem vorgeworfen wurde, polizeiinterne Informationen an die Presse weitergegeben zu haben. Dabei hatten sie Hinweise auf die rechte Polizeikameradschaft, Fotos mit eindeutigen NS-Symbolen und rechtsradikale Texte gefunden.

GRENZÜBERSCHREITUNGEN Zu den Chatgruppen – einige bestehen bereits seit 2012 – gehören insgesamt 30 männliche und weibliche Uniformträger, die fast alle Angehörige einer Wache in Mülheim an der Ruhr waren, die zum Polizeipräsidium Essen gehört.

Im Rahmen der Ermittlungen wurden 34 Polizeidienststellen und Privatwohnungen in mehreren Ruhrgebietsstädten durchsucht, teilte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch vergangener Woche mit. Gegen zwölf Polizeibeamte sind strafrechtliche Verfahren eingeleitet worden. Sie sollen aus dem Polizeidienst entlassen werden. Gegen 18 Personen wurden Disziplinarverfahren eingeleitet.

Inzwischen wurde bekannt, dass bei den Behörden Hinweise auf weitere »Grenzüberschreitungen« durch Beamte eingingen. »Wir erhalten einen ganzen Schwung von Hinweisen aus Polizeikreisen oder von Bürgern«, sagte Reul am Mittwoch der Zeitung »Welt«.

Zudem stehen auch in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 17 Polizisten im Verdacht, rechtsextremes Gedankengut in Internet-Chats ausgetauscht zu haben. Eine Verbindung zu den in Nordrhein-Westfalen aufgedeckten Chats sieht Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU) nach jetzigem Erkenntnisstand nicht.

GASKAMMER »Ich muss Ihnen sagen, dass mich dieser Vorgang sprachlos macht«, sagte der hörbar entsetzte Reul. »Wir reden hier von übelster und widerwärtigster neonazistischer, rassistischer und flüchtlingsfeindlicher Hetze«, sagte der 68-jährige Innenminister.

Mindestens 126 Bilddateien hätten strafrechtlich relevante Inhalte, wie etwa Bilder von Hitler und Hakenkreuzen.

Mindestens 126 Bilddateien hätten strafrechtlich relevante Inhalte, wie etwa Bilder von Hitler und Hakenkreuzen. Zudem seien auch Bilder mit der fiktiven Darstellung eines Flüchtlings in der Gaskammer eines Konzentrationslagers zu sehen sowie eine verächtlichmachende Darstellung der Erschießung von Menschen mit schwarzer Hautfarbe.

Innenminister Reul hat einen Sonder­ermittler beauftragt, die Vorfälle zu untersuchen. Aber »man kann sich ja nicht vorstellen, dass so ein Netzwerk innerhalb der Polizei niemandem aufgefallen ist«, wundert sich der Bochumer Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein. Der Professor für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum fordert deshalb anonyme Meldeverfahren für interne Missstände bei der Polizei.

KONSEQUENZEN Harte Konsequenzen fordert die Gewerkschaft der Polizei (GdP). »Wer NS-Symbole postet oder antisemitische Inhalte teilt, hat nicht nur in der Polizei nichts zu suchen, sondern auch in der GdP nicht. Er wird bei uns ausgeschlossen«, kündigte Michael Maatz, Vorstandsmitglied der GdP in NRW, an.

Der Erste Kriminalhauptkommissar wandte sich jedoch entschieden gegen Forderungen in der Öffentlichkeit nach einer Studie über Rassismus in der Polizei. »Wir haben kein strukturelles Rechtsextremismusproblem in der Polizei.« Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer lehnt eine solche Untersuchung bislang ab, plädiert aber für eine »breit angelegte« Rassismusstudie in der Gesellschaft.

Gegen zwölf Polizisten wurden strafrechtliche Verfahren eingeleitet.

Bestärkt durch die jüngsten Ereignisse sieht Kriminologe Singelnstein dagegen die dringende Notwendigkeit, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus innerhalb der Polizei- und Sicherheitsbehörden breit aufgestellt zu untersuchen. »Wir müssen die Bedingungen kennen, wie sich Einstellungen bilden und verfestigen.«

Und vor allem eine Frage klären: Gibt es innerhalb der Polizei eine »Struktur und Praxis, die zu rassistischen Haltungen führen können«? In den 90er-Jahren habe es bereits einige kleinere Befragungen unter Polizeibeamten gegeben. Dabei habe man festgestellt, dass bis zu knapp einem Fünftel der Befragten eine »verfestigte fremdenfeindliche oder rassistische Einstellung« geäußert hatte.

STUDIE Für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung plädiert auch Josef Schuster. Er sei »überzeugt, dass die große Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten sich dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet fühlt und eine unverzichtbare Arbeit für unsere Gesellschaft leistet«, sagte Schuster der Jüdischen Allgemeinen.

»Als Angehörige der Sicherheitsbehörden tragen sie eine besondere Verantwortung. Antisemitismus, die Verherrlichung der NS-Zeit und Rassismus dürfen keinen Platz bei der Polizei haben. Um Klarheit und Vertrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden zu erhalten, halte ich eine Studie zu antisemitischen, rassistischen und rechtsextremen Tendenzen bei der Polizei für sinnvoll.«

In der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen hätten die Gemeindemitglieder während der Hohen Feiertage »sorgenvoll« die Ereignisse in der Mülheimer Polizeiwache diskutiert, berichtet Gemeinde-Geschäftsführer Alexander Drehmann. »Aber wir fühlen uns nach wie vor gut beschützt.« Die Aufdeckung der Gruppe sei ein »gesellschaftliches Desaster«.

Für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung plädiert auch Josef Schuster.

Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat während der Hohen Feiertage eine steigende Zahl besorgter Stimmen in der Gemeinde bezüglich der Sicherheit vernommen.

Lehrer sieht aber derzeit »keine Notwendigkeit, das Sicherheitskonzept der jüdischen Gemeinde mit der Polizei neu zu diskutieren«. Man müsse Reul jetzt auch »Zeit geben, sein glaubwürdiges und entschiedenes Vorgehen gegen rechts auch innerhalb der Polizei umzusetzen«.

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