Demokratie

Sorge um Europa

Nicht weniger als die Zukunft jüdischen Lebens in Europa steht auf dem Spiel, sollten die Rechtsextremisten weiter an Einfluss gewinnen. Foto: Lydia Bergida

Ich habe Angst. Ich fürchte, dass die Zukunft jüdischen Lebens in Europa auf dem Spiel steht. Der Hauptgrund ist die wachsende Zustimmung zu extremistischen, in erster Linie rechtsextremen Parteien. Einer neuen Prognose zufolge könnten sie bei der Europawahl im Mai nächsten Jahres rund ein Viertel der Stimmen und der Sitze im Europaparlament auf sich vereinigen. Im größten EU-Mitgliedsstaat erreicht die Alternative für Deutschland (AfD) ähnliche Werte, in einigen östlichen Bundesländern liegt sie sogar noch deutlich darüber.

Dabei macht mir nicht nur Sorgen, dass die Partei immer noch mehr Zulauf bekommt. Auch das Herunterspielen, das Beschwichtigen dieser Entwicklung ist problematisch. Das beginnt schon mit der Bezeichnung: Parteien wie die AfD und ihre Gesinnungsgenossen in anderen europäischen Staaten werden häufig als »rechtspopulistisch« beschrieben. Das mag als wissenschaftliche Sammelbezeichnung richtig sein, es verdeckt aber die Radikalität dieser Parteien.

weltbild »Populismus« sagt als Begriff wenig über die Inhalte und Methoden einer Partei aus. »Rechts« sind diese Parteien zweifellos. Aber seien wir präzise: Sie sind rechtsextrem. Ihr Ziel ist es, die freiheitliche Gesellschaft, die für Europa und insbesondere für die EU konstituierend sind, weitgehend wieder abzuschaffen. Diese Parteien vertreten häufig ein völkisches Weltbild, in dem nicht etwa der Franzose, Deutsche oder Niederländer, der einen entsprechenden Pass besitzt, der Nation angehört, sondern nur Personen mit einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit.

Genau aus diesem Grund wollten diese Parteien auch die Zuwanderung stoppen. Sie sind nicht gegen Migranten, weil sie die Stabilität der Sozialsysteme gefährdet sähen, sondern rein aus ideologischen Gründen. Es fallen da Begriffe wie »Umvolkung«, und einige fabulieren gar von einer millionenfachen »Remigration«, einer forcierten Auswanderung also.

Es ist offensichtlich: Die AfD hat sich in den zehn Jahren ihres Bestehens immer stärker radikalisiert. Und selbst heute, wo es wirklich keinerlei Zweifel mehr am Wesen dieser Partei gibt, plädieren Politikwissenschaftler, Journalisten und auch mancher Kommunalpolitiker für eine (wie auch immer geartete) Einbindung und Akzeptanz der AfD – immer unter der Annahme, so schlimm werde es schon nicht werden.

Auch das Herunterspielen, das Beschwichtigen dieser Entwicklung ist problematisch.

Wer da Sorge um die Zukunft des jüdischen Lebens zum Ausdruck bringt, dem wird entgegengehalten, die AfD und ihre europäischen Gesinnungsgenossen seien doch gar nicht antisemitisch, ja, sie seien doch richtig judenfreundlich, weil sie an der Seite Israels stünden, sich gegen die Einwanderung aus islamischen Ländern und den muslimischen Antisemitismus wendeten. Überspitzt gesagt: Wir haben es da also mit einem judenfreundlichen Rechtsextremismus zu tun. Mal was ganz Neues …

schafspelz Selbst wenn es sich hier nicht nur um Wölfe im Schafspelz handelte, selbst wenn Juden ausnahmsweise einmal nicht die Hauptfeindbilder dieser Parteien sind, sondern Migranten und Muslime, was für sich genommen schon schlimm genug ist: Als Jude wiegt mich ein solches Argument nicht in Sicherheit.

Klar ist: Wenn es um Antisemitismus unter Muslimen geht, muss man ihn bekämpfen. Aber man tut es deshalb, weil es sich um Judenhass handelt, und nicht, weil er von einer bestimmten Gruppe ausgeht. Und noch etwas: Derselbe Rechtsstaat, der die muslimische Minderheit schützt, schützt auch die jüdische. Nimmt man einer Gruppe diesen Schutz weg – beispielsweise durch ein Verbot der Beschneidung, des Schächtens oder des Tragens religiöser Symbole –, gibt es auch für die andere keinen Schutz mehr.

Und selbst wenn es die Rechtsextremen nur gut meinen mit uns: Gehören wir Juden tatsächlich zu dem von ihnen imaginierten Volk? Oder sind wir nicht doch nur ein weiterer Fremdkörper? Man muss genau hinschauen und hinhören. In AfD-Chatgruppen wimmelt es von judenfeindlichen Slogans. Auch die Parteispitze verwendet Chiffren wie »Globalisten« und »globale Eliten« – Begriffe, die den Antisemitismus nur mühsam verschleiern. Gleichzeitig wird auch von AfD-Politikern ein Geschichtsbild propagiert, in dem der Nationalsozialismus verharmlost wird. Die Beispiele dafür sind hinreichend bekannt.

opposition Ähnlich wie in Deutschland verhält es sich mit rechtsextremen Parteien in anderen EU-Ländern. Wo sie noch nicht an der Macht sind, bestimmen sie aus der Opposition heraus die politische Debatte mit und verschieben die Koordinaten immer weiter nach rechts. Je stärker diese Kräfte werden, desto mehr fühlen sich ihre Anhänger ermutigt, selbst primitivste Vorurteile öffentlich zu äußern und auszuleben.

Im Europäischen Parlament sind die Extremen bislang von untergeordneter Bedeutung, auch, weil sie sich selten einig sind. Doch je stärker diese Parteien werden, desto schwerer wird auch die Kompromissfindung auf EU-Ebene – nicht nur in der Zuwanderungspolitik. Es gibt momentan leider keinen Grund zum Optimismus, sondern viele Alarmzeichen. Ich hoffe dennoch, dass es Europas Demokraten bis zur Wahl 2024 schaffen werden, die aktuellen Schreckensszenarien noch abzuwenden. Es geht um sehr viel.

Der Autor ist geschäftsführender Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Dortmund

Ermittlungen gegen Wachmann von NS-Gefangenenlager 

Die Polizei ermittelt gegen einen Ex-Wachmann des früheren NS-Kriegsgefangenenlagers in Hemer. Er soll an Tötungen beteiligt gewesen sein - und ist laut »Bild« inzwischen 100 Jahre alt

 22.11.2025

Deutschland

»Völlige Schamlosigkeit«: Zentralrat der Juden kritisiert AfD-Spitzenkandidat für NS-Verharmlosung

Der AfD-Spitzenkandidat aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, äußert sich einschlägig in einem Podcast zur NS-Zeit

von Verena Schmitt-Roschmann  21.11.2025

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025