Pro & Contra

Sollte der Krieg in Gaza beendet werden?

PRO: »Jeden Tag sterben israelische Soldaten und palästinensische Zivilisten«, meint Sabine Brandes

Über Gaza ist die Luft schwer. Es ist nicht nur der Staub zerbombter Gebäude, sondern auch die düstere Wolke einer verheerenden Schlacht, die längst geschlagen ist. Es war ein gerechter Krieg, der nach dem Massaker der Terroristen an unschuldigen Israelis am 7. Oktober 2023 gegen die Hamas geführt wurde. Doch jetzt ist er es nicht mehr.

Militärisch hat die Operation die Phase des Nullsummenspiels erreicht. Die Schlagzeilen, einst dominiert von dramatischen Durchbrüchen und strategischen Gewinnen, sind verblasst. Die Ziele, die organisierten militärischen Fähigkeiten und die Infrastruktur der Hamas zu zerschlagen, sind weitgehend erreicht. Eine Führung der Terrororganisation existiert nicht mehr. De facto ist der Gaza-Krieg gewonnen.

Und doch sterben jeden Tag israelische Soldaten und palästinensische Zivilisten. Die Soldaten in verminten Terrortunneln und Gebäuden, die Palästinenser, wenn sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden. Dabei ist jeder unterirdische Gang, jedes zerbombte Haus strategisch viel weniger wert als noch vor zwölf Monaten. Das Leben aber hat seinen Wert nicht verloren und darf ihn niemals verlieren. Jeder Verlust auf israelischer und palästinensischer Seite wiegt gleich schwer, schmerzt gleich tief. Die israelische Gesellschaft, so widerstandsfähig sie auch ist, toleriert immer weniger das Opfer ihrer Jugend für fragwürdige »Erfolge in Gaza«, die zu einer sich wiederholenden, verstörenden Show aus Staub und Tod geworden sind.

Und mitten in der Zerstörung befinden sich 50 Geiseln in dunklen feuchten Tunneln, etwa 20 von ihnen sind noch am Leben und warten darauf, gerettet zu werden. Für den Großteil der israelischen Gesellschaft steht ihre sichere Rückkehr über allem. Zu Recht. Denn sie wäre Symbol der Versicherung, dass Israel sein moralisches Vermächtnis, »niemanden zurückzulassen«, nicht aufgegeben hat. Es ist die Basis des jüdischen Staates und seiner Menschen, die nie hätte zerbrochen werden dürfen. Noch ist es nicht (ganz) zu spät. Dass die Kampfhandlungen die Geiseln nicht retten, sondern gefährden, ist längst bewiesen und wird von der Armee bestätigt.

»Mitten in der Zerstörung befinden sich 50 Geiseln in dunklen feuchten Tunneln – etwa 20 sind noch am Leben.«

Wobei die größte Schlacht in Gaza nicht mehr der Vormarsch der Panzer ist, sondern die Versorgung der verzweifelten Zivilbevölkerung. Der Ruf der Armee aber wird gerade dadurch in den Dreck gezogen. Auch der Großteil der israelischen Öffentlichkeit will nicht, dass ihre jungen Männer, ihre Helden, die furchtlos die Hamas bekämpften, mit der schändlichen Aufgabe betraut sind, die Verteilung von humanitärer Hilfe zu beaufsichtigen und dabei – wenn auch aus Versehen – wartende Hungernde zu erschießen.

Nichts daran ist heroisch. Diese Operation missbraucht die Armee für die grundlegend falschen Bestrebungen der rechtsradikalen Elemente der Regierung in Jerusalem: einer Wiederbesetzung des Gaza­streifens durch jüdische Siedler. Selbst wenn es von den miserablen Bedingungen der Verteilung der Hilfsgüter nur wenige Bilder gibt, ist das, was in die Welt projiziert wird, eine Katastrophe für Israel. Denn Israel existiert in dieser Welt – und die Israelis wollen Teil davon sein. Nicht Geächtete, nicht Gemobbte, sondern Zugehörige.

Was ist das Ziel in Gaza? Während die Regierung eine offene Antwort auf diese Frage verweigert, gibt es ein klares Beispiel, wie es sein könnte: die Situation mit der Hisbollah im Libanon. Parallel zu Gaza schaltete Israel die Führung der Schiitenmiliz aus und machte deren kämpferische Fähigkeiten praktisch zunichte. Dann zog sich Israel aus dem Libanon zurück. Ohne formelles Abkommen, doch mit klarer Botschaft: Bei jedem Versuch eines Machtaufbaus wird Israel einmarschieren und die Terroristen wieder ins Visier nehmen.

Das Ergebnis im Libanon ist, dass die lokale Bevölkerung, der Zerstörung überdrüssig, oft als Bremse für die Hisbollah fungiert, aus Angst vor israelischer Vergeltung. Zumal die Unterstützung durch den Terrorfinanzier Iran dramatisch geschwächt ist. Genauso sollte die Botschaft an die Hamas lauten: Ihr baut eure Arsenale wieder auf – wir kommen, um euch zu holen. Auch, wenn der Krieg offiziell beendet ist. Denn wer glaubt in Israel wirklich noch, dass die Hamas als Militärmacht bald wieder über die Absperrungen marschiert und ein Massaker anrichtet, während alle schlafen? Auch die israelische Armee widerspricht dem und erklärt kategorisch, dass das nie wieder geschehen wird.

Oder ist das Argumentieren mit der Angst längst Mittel zum Zweck geworden? Zudem ist es eine seltsame Position, Härte aus angeblicher Furcht zu zeigen. Besonders nach dem Sieg gegen den Iran sollte Israel das Bild einer starken selbstbewussten Nation abgeben – die sie tatsächlich ist und die sich nach der schwersten Zeit seit ihrer Entstehungsgeschichte auf das besinnt, was wirklich zählt: das Leben! Es gibt ein echtes Potenzial, den Krieg in Gaza mit dem Erfolg zu beenden, alle Geiseln nach Hause zu holen. Die Zeit dafür ist jetzt. Damit Israel nach vorn schauen kann und nicht selbst in einer dunklen Wolke von Krieg und Hoffnungslosigkeit versinkt.

Sabine Brandes ist Israel-Korrespondentin der »Jüdischen Allgemeinen«.
Sie lebt in Tel Aviv.

***

CONTRA: »Die Hamas würde ein Ende des Krieges nutzen, um Israel später erneut und umso heftiger anzugreifen«, findet Dan Schueftan

Für wen wäre es gut, wenn der Krieg in Gaza beendet werden würde? Zweifellos auch für die Hamas. Die Terroristen würden die Situation sofort nutzen, um sich neu zu formieren und Israel wie am 7. Oktober abermals anzugreifen. Das darf Jerusalem niemals zulassen.

Damit sie die Geiseln freilässt, fordert die Hamas nun, dass Israel ihr erlaubt, sich in Gaza als Kampfkraft wieder zu etablieren. Israel soll den Philadelphi-Korridor zwischen Israel und Ägypten öffnen, sich aus dem Gazastreifen zurückziehen und den Krieg vollständig beenden. Die Hamas will eine Phase der Ruhe, was für Israel sehr schlecht ist. Das Land soll so lange untätig bleiben, wie die Hamas braucht, um sich zu erholen. Und dann werden wir wieder einen Krieg haben. Einen noch heftigeren als heute.

Israel muss also präventiv handeln. Sobald wir sehen, dass die Hamas ihre Terror-Infrastruktur wieder aufbaut, müssen wir militärisch massiv eingreifen und sie sofort zerstören. Wir dürfen nicht warten, bis die Hamas erneut Israel attackiert. Wenn Hamas eine Fabrik baut, dann ist es eine Fabrik für Raketen. Wir müssen sie zerstören. Sofort. Und wenn die Hamas mit Waffen auf der Straße aufmarschiert, müssen wir diese Parade und alle Teilnehmer angreifen.

Wenn die Hamas die Freilassung der Geiseln so lange hinauszögern kann, dass sie genug Zeit hat, sich wieder zu sammeln, darf Israel eine solche Vereinbarung nicht zulassen. Das Ergebnis wäre katas­trophal. Vor allem, weil die Muslimbrüder glaubhaft den Sieg im Gazastreifen für sich beanspruchen könnten. Und dann würde die Gefahr, dass sie in Ägypten und Jordanien die Macht übernehmen, dramatisch steigen. In diesem Fall könnte es zu einem erneuten regionalen Krieg kommen. Ägypten würde wieder die Führung einer arabischen Allianz übernehmen, die darauf abzielt, die Existenz Israels zu untergraben. Was wir 1979 mit dem Frieden mit Ägypten begonnen haben und bis heute fortführen, wäre zunichtegemacht.

Die Muslimbruderschaft zu besiegen, zu demütigen, zu zerstören und daran zu hindern, sich wieder zu etablieren, ist ein enorm wichtiges Ziel Israels. Dies würde das Ende des Krieges zu Israels Bedingungen bedeuten. Ein Ende zu den Bedingungen der Hamas dagegen würde bedeuten, dass die Muslimbrüder wieder erstarken. Nicht nur die israelischen Siedlungen im Negev, nicht nur israelische Bürger an der Grenze wären betroffen, sondern der Nahe Osten würde sich erneut in eine negative Richtung verändern.

»Die Hamas will sich neu als Kampfkraft etablieren. Was sie aufbaut, müssen wir wieder zerstören.«

Was ist in diesem Krieg passiert? Israel ist es gelungen, die Überreste der arabischen Radikalen, nämlich die Hamas und die Hisbollah, Syrien und die Huthi, weitgehend zu zerstören und dem Iran einen schweren Schlag zu versetzen. Wir haben die radikale Achse besiegt, und die Wiederherstellung dieses radikalen Auswegs zu verhindern, ist wichtiger als jedes andere strategische Bedürfnis Israels.

Daher stellt sich die Frage, wie der Krieg in Gaza enden wird. Werden wir die Hamas weiter zerstören? Oder werden wir ihr erlauben, sich neu aufzustellen? Wenn wir Letzteres zulassen, müssen wir Gaza irgendwann erneut erobern, was mit sehr hohen Kosten und politischen Folgen verbunden wäre, die sich Israel nicht leisten kann.

Wir werden die hartnäckigsten Feinde Israels nicht überzeugen. Wir werden die BBC, die »New York Times«, die Vereinten Nationen, den Gerichtshof in Den Haag, die Progressiven nicht für uns gewinnen. Sie sind anti-israelisch und werden sich nicht ändern. Aber es ist wichtig, dass Israel der Hamas und den Radikalen in der arabischen Welt sowie den verantwortungsbewussteren arabischen Führern beweist, dass selbst diese Waffen – die BBC, die New York Times, CNN, die Vereinten Nationen, Amnesty International und die Gerichte in Den Haag –, auch wenn sie in den Händen der Terrororganisation sind, die Hamas nicht schützen können.

Ich denke, dass die radikalen Progressiven heute der größte Feind der westlichen Zivilisation sind. Denn sie versuchen, ihre Verteidigungsfähigkeit zu untergraben, indem sie die Hamas und den Terrorismus sowie den Kampf gegen die Existenz des jüdischen Staates legitimieren. Israel kann Menschen überzeugen, die bereit sind, sich zu verteidigen, aber nicht jene, die glauben: Wer weiß ist, ist schuldig. Ich hoffe, dass sich die BBC und Amnesty International bald ändern werden. Und ich bin mir sicher, sie werden sich ändern, denn durch die Unterstützung der Hamas verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit.

In den letzten Jahrzehnten wurden die sehr legitimen und wünschenswerten Beschränkungen, die sich die Liberalen auferlegt haben, wenn sie gegen Barbaren kämpfen, von den radikalen Progressiven so weit getrieben, dass sie uns sagen: Ihr dürft euch nicht verteidigen. Liberale sollten Barbaren mit einer Hand auf dem Rücken bekämpfen, aber nicht akzeptieren, dass die radikalen Progressiven ihnen auch die zweite Hand hinter dem Rücken binden.

Dan Schueftan ist Sicherheitsexperte in Israel und beriet unter anderem Ariel Scharon und Yitzhak Rabin.

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