Pro & Contra

Sollen wir den 9. Mai feiern?

Pro – Wir können aus den Erfahrungen unserer Veteranen lernen.

»Frau N., haben Sie den Minibus bestellt?« »Herr K., klappt es mit dem Kombi-Taxi für die Rückfahrt? Die Rollatoren müssen unbedingt noch rein.« »Sind die roten Nelken bestellt worden?« »Ist der Wodka gekauft und gekühlt worden?« »Sind alle Termine mit dem Gemeindevorsitzenden koordiniert – wegen seiner Ansprache?«

Viele kennen das. Eine logistische Routine. Das Ökonomische und Organisatorische muss bei diesen 9.-Mai-Terminen besonders stimmig sein. Die Hauptprotagonisten sind schließlich mit 90 plus nicht mehr die Jüngsten und selten die Gesündesten. Man nennt die Kriegsveteranen oft »unsere Lieben« und meint dabei: unsere lieben Kinder. Die alten Menschen wirken in der Tat oft wie Kinder. Zerbrechlich und neugierig.

Alle wissen in den Gemeinden: Die Russen feiern ihren komischen »Tag des Sieges«. Sollen sie! Wir wollen schließlich, dass sie zufrieden und dass alle Juden in den Gemeinden nach ihrer Fasson glücklich sind. Sind sie mit ihren Kulturklubs und mit ihrem 9. Mai zufrieden – bitte sehr!

Dann kommen sie, die Veteranen, mit ihren Medaillen auf unmodischen Sakkos. Wie schaffen sie das bloß, das schwere Zeug zu tragen? So viele Frauen dabei! Wie, Frauen im Stalinismus?! Ja ja, in der UdSSR haben Frauen und Männer gleichermaßen im Krieg gekämpft. Wofür denn? Für dieses sowjetische totalitäre Monstrum? Für Stalin? Heute setzt man Stalin oft mit Putin gleich. Doch Putin wurde erst 1952 geboren.

Wir fantasieren hierzulande gern über starke Juden, die Nazis schlagen sollen. Deswegen ist auch Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds in Deutschland so beliebt. Zack, zack, zack – und die Köpfe der Nazis rollen nur so, ihr Blut fließt in alle Himmelsrichtungen. Wir schauen uns das an und kehren direkt danach zum Bild von unserem »auserwählten Volk des Westens« (Yuri Slezkine) zurück. Wir glorifizieren in Deutschland die für viele abstrakten jüdischen Opfer und denken an die eigenen Schuldgefühle. Wir lassen uns dabei natürlich auch gut unterhalten: Ein Happening muss einfach sein!

Gebt dieses Denken für einen Tag auf. Legt diese deutsche Melange aus Trauer und dem Wunsch, gut unterhalten zu werden, kurz ab. Nehmt die jungen Leute, die Russisch mit einem starken Akzent und vielen deutschen Wörtern sprechen, mit. Sie würden eine Stunde aushalten. Sie können schließlich auch in den Gemeinderäumen chatten, twittern und whatsappen. Lasst sie euch übersetzen! Unterbrecht das Übliche des offiziellen Ablaufs! Redet mit den Veteranen! Fragt sie, wo sie gedient und gekämpft haben! Sind sie Leutnants oder vielleicht doch Kapitäne oder gar Oberste? Hört euch ihre Lieder an – es geht dort um Liebe und die Heimkehr aus dem Krieg. Lebend. Mit einem Sieg. Nicht um Stalin und schon gar nicht um Putin geht es in diesen Liedern.

Die jüdischen und nichtjüdischen Rotarmisten rächten sich an den Nazis (leider nicht selten auch an der deutschen Zivilbevölkerung) für ihre Eltern, Tanten und Omas, die irgendwo zwischen Babi Jar und Minsk erschossen wurden und deren Leichen anonym in kalten Massengräbern liegen. Sie nannten es eine »gerechte Rache«. Diese Rache war auch gerecht. »Töte den Deutschen!«, rief sie der Dichter und Publizist Ilja Ehrenburg auf, und sie haben »die Deutschen« tatsächlich getötet – um sich nach dem Krieg mit ihnen zu versöhnen.

Sie kämpften für die Idee einer internationalen Menschheit. Sie dachten, das sei Humanismus: Sie seien keine Juden mehr, sondern eine Avantgarde des sowjetischen Volkes und der Menschheit. Dieser Glaube war stark, trotz des Antisemitismus. Ein solcher Glaube fehlt uns heute.

Doch die Veteranen sollten sich täuschen, denn die von ihnen angestrebte Ära der Gerechtigkeit – eine jüdische Idee! – kam nach dem Krieg nicht. Die kommunistische Ideologie scheiterte. Die jüdischen Veteranen entdeckten danach das Land Israel. Ein jüdisches Land, das kämpft. Das war ihnen sofort verständlich, denn auch sie hatten gekämpft. Sie wussten: Nur wer kämpft, kann siegen. Manchmal heißt es in den Gemeinden: »Ihr habt gekämpft, damit Israel entstehen konnte.« Das stimmt so nicht. Die jüdischen sowjetischen Soldaten und Soldatinnen haben gekämpft, damit sie, ihre Familien und die Welt weiterleben können. In Frieden. Doch was auf jeden Fall stimmt: Die Entstehung Israels war eine der Folgen ihres Kampfes gegen den Nazismus.

Sie kämpfen heute vor allem gegen Einsamkeit, Schmerzen und Schlaflosigkeit. Ihr wollt doch verstehen, was »los war« in diesem schwierigen 20. Jahrhundert? Die Geschichte wollt ihr kennenlernen, nicht nur ein ritualisiertes, von oben vorgeschriebenes Gedenken praktizieren? Dann geht in die Gemeinden, trefft dort »unsere lieben« Alten. Noch ist dieses 20. Jahrhundert in ihren Geschichten präsent, noch sind die Veteranen da. Aber die Zeit rennt unaufhaltsam davon. Lernt etwas über dieses jüdische Leben von gestern, dann versteht ihr das heutige besser!

Dmitrij Belkin wurde 1971 in Dnepropetrowsk geboren.
Er ist Historiker, Ausstellungsmacher und Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES)


Contra – es gibt keinen Grund, in Deutschland das Sowjetsystem zu glorifizieren.

Ich bin in der Ukraine aufgewachsen und habe die Sowjetzeit in unguter Erinnerung. Obwohl ich mit meiner Frau, meinem Sohn und allen anderen Verwandten Russisch spreche, gehe ich schnell weiter, wenn ich in Deutschland Leute auf der Straße Russisch reden höre, denn mich stört, dass viele meiner Landsleute in letzter Zeit große Patrioten geworden sind.

Einmal aber, es war an einem warmen Tag, der mich ganz weich machte, sodass ich nicht aufpasste, hörte ich, wie zwei Menschen Russisch miteinander sprachen, und ich grüßte sie. Ich hätte es nicht tun sollen, denn es passierte genau das, was ich befürchtet hatte: Der Mann schwieg und lächelte, aber seine Frau erzählte und erzählte, immer mehr und immer emotionaler, davon, wie hart das Leben in Deutschland sei, und vor allem, wie schwierig es sei, wenn man sich für etwas Wichtiges einsetzt.

Schon während des Gesprächs spürte ich, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Ich konnte nicht sagen was, aber es hatte etwas mit fehlender Würde und fehlender Identität zu tun, mit geringem Selbstwertgefühl und damit, dass diese Frau eine starke Abneigung gegen ihre fremde deutsche Umwelt hatte. Und genau deshalb führt sie einen persönlichen Kampf für den 9. Mai, den Tag, an dem ihr sowjetisches Volk die Deutschen bezwang.

An dieser Stelle hört es auf, die Geschichte eines verzweifelten Menschen zu sein: Denn diese Frau wollte den 9. Mai in der jüdischen Gemeinde feiern – doch man ließ sie nicht. Mich befremdet die Vorstellung, dass russische Juden im Land der Täter den glorreichen Sieg der Roten Armee feiern, während sie von diesem Land, dessen Faschisten sie damals besiegt haben, Sozialhilfe beziehen. Ihr Vaterland aber, das sie so sehr verehren, ist nicht in der Lage, für sie zu sorgen, deshalb sind sie nach Deutschland gekommen.

Diese Frau akzeptiert die Welt nicht, in der sie lebt. Sie klammert sich an etwas, das Identität stiften soll, ihr das Gefühl der Würde geben kann. Dieses Gefühl der Würde und des Rechthabens, des Im-Recht-Seins, gibt ihr der 9. Mai.

Nachdem ich Anfang der 90er-Jahre mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen war und hier studiert hatte, ging ich 2007 aus beruflichen Gründen nach Sankt Petersburg und bin erst vor zwei Jahren wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Ich habe aus dieser Petersburger Zeit noch diese St.-Georgs-Bänder vor Augen, das Symbol des Vaterländischen Krieges, das die Menschen am 9. Mai auf der Straße tragen. Diese Bänder hingen an Autoantennen, Kinderwagen, an der Kleidung der Frauen, als große Banner an Gebäuden. Von ihrer neuen Größe entzückte junge Gesichter liefen durch die Straßen, wir sind wieder wer, wir sind stark, wir haben es allen gezeigt, die Krim ist unser ...

Warum greift jemand in seiner Not nach dem sowjetischen Epos? Warum ist dieses Sowjetische nach wie vor so stark? Es war doch eine schreckliche Diktatur. Millionen Menschen wurden umgebracht, in Gefängnissen und Straflagern gequält, Generationen lebten in Angst.

Die Propagandabilder der Sowjetdiktatur leben nach wie vor, ihre Wirkung ist bis heute stark. Eine Desowjetisierung der russischen Gesellschaft hat nicht stattgefunden, das stalinistische Erbe wurde weiterentwickelt und erlebt eine Renaissance.

Der 9. Mai war einer der wichtigsten Feiertage in der UdSSR und ist es im heutigen Russland. Seit Jahrzehnten werden der Zweite Weltkrieg und der »Tag des Sieges« für Propagandazwecke genutzt. Die Logik der Agitatoren ist einfach: Das russische Volk hat gegen den Faschismus gekämpft und ihn besiegt. Die UdSSR und das heutige Russland werden damit zu Antifaschisten. Alle diejenigen, die gegen uns sind, sind Faschisten.

Dabei ist die Geschichte des 9. Mai und vom Vaterländischen Krieg eine bewusste Fälschung. In der westlichen Welt wird der 8. Mai als Datum des Kriegsendes gefeiert. An diesem Tag unterzeichnete Deutschland die Kapitulation. Die UdSSR distanzierte sich bewusst von der westlichen Welt und feierte einen Tag später, am 9. Mai – einem erfundenen Datum.

In der westlichen Welt gilt der 1. September 1939 als der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann. In der sowjetischen und der russischen Geschichtsschreibung ist es der 22. Juni 1941, der Tag, an dem Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel. So lassen sich Hitlers und Stalins Nichtangriffspakt von 1939, mit dem es gelang, Polen zu annektieren, sowie der Übergriff der UdSSR auf Finnland bewusst ausgeklammern, und Russland kann sich als lupenreines Opfer darstellen.

Heute führt Moskau wieder Krieg im Namen des »antifaschistischen« Kampfes. Menschen werden ermordet und gefoltert. Im Namen des Vaterländischen Krieges werden Millionen Russen auf einen neuen Feldzug gegen Feinde vorbereitet. Als Feind gilt auch das »verkommene Europa«.

Es ist nicht die Zeit, dem Sowjetischen mit verklärter Nostalgie zu begegnen. Denn der Stalinismus lebt weiter. In Russland. Aber auch in manchen Teilen der russischsprachigen Community in Deutschland.

Dimitri Goldenberg wurde 1971 in Odessa geboren.
Er ist Architekt und lebt in Lübeck.

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