Erfahrung

Schutzbedürftig

Explosive Situation: Das Kettensprengen birgt auch Risiken und Nebenwirkungen. Foto: Marco Limberg

Das Judentum ist die Religion der Freiheit. Der Gott der hebräischen Bibel stellt sich seinem auserwählten Volk am Berg Sinai ausdrücklich als Retter der Sklaven vor: Er will nicht, dass Menschen sich vor selbst gemachten Göttern erniedrigen. Der Ewige will auch nicht, dass sie sich vor Pharaonen und anderen Königen in den Staub werfen. Im »Alenu«-Gebet verleihen wir jeden Tag unserer Hoffnung Ausdruck, dass Gott dereinst die Vielgötterei und so auch alle Tyrannei vom Antlitz der Erde hinwegfegen wird, damit endlich Sein Reich des Friedens anbrechen kann.

Warum tun Juden sich dann jetzt so schwer, die Morgendämmerung der Freiheit im Orient zu begrüßen? Warum jubeln sie nicht lauthals mit, wenn – oh Wunder der Weltgeschichte! – Ägypten selbst aus Ägypten auszieht? Warum schweigt Israel wie vom Donner gerührt? Warum hört man auch von jüdischen Organisationen in Amerika kein Sterbenswörtchen? Die Antwort finden wir vielleicht in einer historischen Episode, dem Fettmilch-Aufstand in Frankfurt am Main 1614.

Revolte Die Stadt wurde autoritär von einem Rat regiert, in dem vor allem Patrizier das Sagen hatten. Als herauskam, dass dieser Rat enorme Schulden gemacht, dass er Geld veruntreut hatte, das eigentlich der Kranken- und Armenversorgung dienen sollte, dass er die vom Kaiser garantierten Rechte der Bürger heimlich einschränken wollte – da revoltierten unter Leitung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch die Zünfte.

Dieser Aufstand gegen die Oberen der Stadt richtete sich von Anfang an auch gegen die Juden. Es hieß, diese steckten mit dem Rat unter einer Decke, außerdem nahmen sie angeblich Wucherzinsen (in Wahrheit verlangten christliche Bankhäuser natürlich ebenso hohe Zinsen wie die jüdischen Geldverleiher). Zu allem Unglück fand Vinzenz Fettmilch dann noch eine Urkunde, die besagte, dass der Kaiser die Stadt nicht zur Verantwortung ziehen werde, wenn die Juden »von Todes wegen abgingen oder verdürben oder erschlagen würden«. Ein Freibrief zum Pogrom!

Am 22. August zogen Handwerker mit dem Ruf »Gebt uns Arbeit und Brot« durch die Gassen. Dann, gegen Mittag, als sie schon ziemlich besoffen waren, drang der Mob ins Ghetto ein. Die Juden flüchteten auf den Friedhof und zu christlichen Freunden. Am nächsten Tag wurden sie aus Frankfurt vertrieben. Erst nach der Niederschlagung des Aufstands, als Vinzenz Fettmilch hingerichtet worden war, durften die Juden in ihre Häuser zurückkehren. Über dem Eingang zum Ghetto hing seither ein Reichsadler mit der Aufschrift: »Römisch kaiserlicher Majestät und des heiligen Reiches Schutz«.

Diaspora-logik Solche Episoden gibt es zuhauf in der jüdischen Geschichte. In der Summe ergeben sie ein Muster: Juden haben sich in der Diaspora häufig darauf verlassen, dass irgendeine Obrigkeit – ein Bischof, ein Kaiser, ein Sultan – schützend ihre Hand über sie hält. Und sie hatten immer dieselbe begründete Angst vor den »pauperes«, den verarmten aufgehetzten Massen, die in Momenten der Raserei nichts Besseres zu tun wussten, als über die Juden herzufallen. Just diese Logik – eine Diaspora-Logik, wie man leider feststellen muss – steckte hinter dem Bündnis des Staates Israel mit Hosni Mubarak: Der ägyptische Diktator garantierte einen »kalten Frieden« und hielt, so hat es den Anschein, wenigstens die schlimmsten Antisemiten im Zaum.

Aber befindet sich diese Denkart überhaupt noch im Takt mit den jüngsten Ereignissen? Tummelt sich da draußen auf den Straßen und Plätzen des Orients nicht eine ganz neue Generation von Arabern? Wenn man das nur so genau wüsste. 80 Millionen Menschen leben in Ägypten. Nur ein Bruchteil von ihnen versammelte sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Bei Interviews im Fernsehen bekamen wir nur jene paar Leute zu hören, die Englisch sprechen.

Wir haben also kaum eine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was die Mehrheit der Ägypter (etwa auf dem flachen Land) denkt und fühlt. Und Folgendes ist ein beunruhigendes Zeichen: Ayman Nour, der Vorsitzende der Ghad-Partei, hat bereits angekündigt, dass der Friedensvertrag Ägyptens mit Israel null und nichtig sei; zumindest müsse das Abkommen neu verhandelt werden. Nun ist Ayman Nour kein islamischer Fundamentalist, sondern ein Gegner der Muslimbruderschaft, ein liberaler Demokrat, der im Gefängnis gesessen hat. Wenn ein solcher Mann glaubt, er müsse mit der Meute heulen, dann bedeutet das nichts Gutes.

Andererseits zeugt es nicht von Klugheit, wenn man sich an einen Status quo klammert, der längst passé ist. Die ägyptische Demokratie wird nach unseren Maßstäben womöglich kein erbauliches Schauspiel abgeben. Aber wenigstens kann nun niemand mehr behaupten, an den Problemen des Landes am Nil sei ein vom Westen gestützter Diktator schuld.

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Gaza/Westjordanland

Umfrage: Mehr als die Hälfte der Palästinenser befürwortet die Massaker vom 7. Oktober 2023

Klare Mehrheit der Palästinenser zudem gegen Entwaffnung der Hamas

 21.12.2025

Interview

»Die Zustände für Juden sind unhaltbar. Es braucht einen Aufstand der Anständigen«

Zentralratspräsident Josef Schuster über den islamistischen Anschlag von Sydney und das jüdische Leben in Deutschland nach dem 7. Oktober

 21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Faktencheck

Berichte über israelischen Pass Selenskyjs sind Fälschung

Ukrainische Behörden ermitteln wegen hochrangiger Korruption. Doch unter diesen Fakten mischen sich Fälschungen: So ist erfunden, dass bei einer Razzia ein israelischer Pass Selenskyjs gefunden wurde

 20.12.2025

Analyse

Ankaras Machtspiele

Manche befürchten schon einen »neuen Iran«. Warum Israel die Türkei zunehmend als Bedrohung wahrnimmt

von Ralf Balke  20.12.2025

Bundestag

Zentralrat verteidigt Weimers Gedenkstättenkonzept

Der Ausschuss für Kultur und Medien hörte Experten zu der Frage an, ob über den Holocaust hinaus auch andere Verbrechen Teil der deutschen Erinnerungskultur sein sollen

 19.12.2025

Frankreich

Drei Jahre Haft für antisemitisches Kindermädchen

Ein französisches Gericht hat eine Algerierin zur einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie einer jüdischen Familie Reinigungsmittel ins Essen, Trinken und die Kosmetika mischte

 19.12.2025

Berlin

Bericht über Missbrauch internationaler Hilfe durch Hamas im Bundestag vorgestellt

Olga Deutsch von der Organisation NGO Monitor sagt, während die Bundesregierung über Beiträge zum Wiederaufbau Gazas berate, sei es entscheidend, auf bestehende Risiken hinzuweisen

von Imanuel Marcus  19.12.2025